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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums
Autoren: Anne de Witt
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erfolgreiche – Dr. Ascher gehörte.
    Jakob wurde in den folgenden Jahren der ganze Stolz der Familie Lobrecht. Er wuchs zu einem hübschen Jungen heran, der Mutter sehr ähnlich, nur hatte er außergewöhnlich kleine, schneeweiße Zähne, und sein Haar war dunkler als ihres. Anna Lisa konnte zusehen, wie das Erbe seines Vaters in seinem Charakter Gestalt annahm. Der Junge trug noch kurze Hosen, da war er schon herrisch, selbstbewusst und von einer Kühnheit, mit der er andere seines Alters weit übertraf – und dabei so anmutig, so geschmeidig. Obwohl er außergewöhnlich klein und zierlich war, lernten seine Freunde und Feinde rasch, wie sehr dieses feminine Äußere täuschte. Wer ihm einmal zu nahe trat, versuchte es kein zweites Mal. Als er älter wurde, saß er auf dem Pferd, als sei er damit verwachsen; kein Tier warf ihn jemals ab, und er brauchte weder Sporen noch Gerte. Mit zwölf Jahren war er ein glänzender Fechter. Er lernte rasch und mit Eifer, und zum Entzücken seiner Verwandten interessierte er sich von Anfang an für die Schifffahrt. Er las und redete immerzu von fernen Ländern und noch unentdeckten Inseln, er stand am Hafen und sah den Schiffen nach und seufzte.
    Sein Großvater und seine Onkel waren begeistert. Sie waren einhellig der Meinung, in dem erstgeborenen Enkel schlage eben die Lobrecht’sche Seite der Familie durch. Über den Umstand, dass der Junge zwar Anna Lisa ähnelte, aber sonst niemandem in der Familie, gingen sie in diskretem Schweigen hinweg. Er liebte das Meer und die Schiffe, das war genug. Das Kaufmännische an der Reederei freilich interessierte ihn nicht im Geringsten, nur die Seefahrt allein zog ihn an. Mit dreizehn Jahren sprach er seinen Großvater und seine Eltern darauf an, dass er als Schiffsjunge zur See fahren wollte, nicht auf einem der Schiffe des alten Lobrecht, wo man ihn protegiert hätte, sondern auf dem Schiff eines fremden Herrn.
    Simeon war fest entschlossen, nicht denselben Fehler zu machen wie sein eigener Vater. Es wäre allerdings auch einem strengeren Vater nicht leichtgefallen, den Knaben zu etwas zu zwingen, das der nicht wollte, denn Jakob besaß eine außergewöhnliche Willensstärke. Hätten sie ihn zu halten versucht, wäre er weggelaufen. Simeon sagte nur: »Geh deinen Weg. Meinen Segen hast du. Und wenn du es dir anders überlegst, weißt du, wo wir zu Hause sind.« Und so zog Jakob also tatsächlich in jungen Jahren zur See – und wie sein Großvater es bei der ersten Begegnung prophezeit hatte, wurde er in späteren Jahren Kapitän.
    Simone war das genaue Gegenteil ihres Bruders. Ihr Vater war ihr Ein und Alles. Sie suchte keine Freunde außer ihm, sie hatte keine anderen Interessen als er. Mit vier Jahren brachte sie ihm Blumen, die sie im Park gepflückt hatte, mit fünf Jahren begann sie ein intelligentes Interesse an seinen Herbarien zu zeigen. Mit sechs Jahren saß sie stundenlang neben ihm, geduldig damit beschäftigt, die gepressten Blumen einzukleben, die sie selbst gesammelt und präpariert hatte. Sie weigerte sich rundheraus, den Vater zu verlassen, um zur Schule zu gehen, und Anna Lisa – die sich insgeheim selber oft fragte, wie lange sie selber den Gatten und das Mädchen seinen Vater noch haben würde – bestellte ihr eine Gouvernante.
    Die junge Dame, die diese Aufgabe übernahm, hatte bei gutem Lohn wenig zu tun. Was Simone lernen wollte, brachte ihr Vater ihr bei. Mit zwölf Jahren führte sie seine Korrespondenz in drei Sprachen. Sie geizte mit jeder Stunde, die sie anderen Menschen widmen musste; kaum konnte sie sich freimachen, sprang sie die Treppen hinauf zu seinen Zimmern, und dort herzte und küsste sie ihn, als hätte sie ihn monatelang nicht gesehen, wo sie doch kaum eine Stunde fort gewesen war. Sie kümmerte sich um Tietjens, die nach wie vor zu Simeons Füßen lag, das riesige Wrack eines uralten Hundes, bis sie – hochbetagt und lebenssatt , wie es in der Bibel heißt – eines Nachts im Schlaf starb und unter den Eiben im Garten begraben wurde. Pahti tröstete das weinende Mädchen mit der feierlichen Zusage, dass Dschinn niemals wirklich starben, sie wechselten nur ihre Gestalt; wenn es ihnen gefiel, erschienen sie als wirbelnde Windhosen, als Tiere oder Feuersäulen, und es mochte gut sein, dass sie die Erhabene eines Tages in anderer irdischer Form wiedersahen.
    Auch im Äußeren war Simone das Alter Ego ihres Vaters. Hochgewachsen und schlank, hatte sie seine reizvollen Züge, die edel
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