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Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Autoren: Jocelyne Godard
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schöpfte.
    In der Dämmerung, als sich eine mondlose Nacht ankündigte, war Louise zu ihren Kindern gegangen.
    »Ich hege die starke Befürchtung, dass mir die Gegend, aus der der Herzog stammt, nicht besonders zusagen wird, auch wenn ich sie noch nicht kenne«, hatte Marguerite gerade in einem Ton erklärt, der keinen Widerspruch duldete.
    »Ich bitte dich, mein Herzchen«, hatte François sie zu beruhigen versucht, »von der Normandie ist es so ein kurzer Weg nach Blois, dass du jederzeit dorthin reiten kannst. Ob es dir in der Normandie gefällt oder nicht – du sollst reisen, wenn dir danach ist, Schwesterchen. Das ist doch auch Eure Meinung, Mutter?«
    Marguerite sah ihren Bruder mit einem Anflug von Traurigkeit an und sagte: »Glaubst du nicht, dass ich meine Unabhängigkeit verlieren werde?«
    Weinend warf sie sich dann ihrer Mutter an den Hals.
    »Einem Mann bedeutet die Gattin nie so viel wie einer Frau ihr Gatte, und das wisst Ihr sehr wohl. Da gelten unterschiedliche Gesetze, auch wenn bei uns relativ liberale Sitten herrschen und Ihr sehr unbefangen und freizügig denkt, Mutter.«
    Marguerite trocknete sich die Augen und sagte herausfordernd:
    »Ich mag den Duc d’Alençon nicht. Ich habe ihn erst ein oder zwei Mal gesehen, aber er gefällt mir nicht.«
    Louise schob ihre Tochter etwas von sich, sah ihr in die Augen und sagte:
    »Du hast natürlich recht, die Gesetze der Männer werden die Frauen immer benachteiligen. Aber wenn du glaubst, dass sie sich
auf höchster Ebene angleichen, täuschst du dich, meine Liebe«, meinte sie und strich Marguerite ein paar widerspenstige Locken aus der Stirn. »Denk nur einmal an deinen Bruder. Heiratet er etwa die Frau, die er liebt?«
    »Wir wissen, dass François Claude de France heiraten wird, Mutter«, protestierte Marguerite. »Ganz Frankreich weiß das bereits. Aber glaubt Ihr etwa nicht, dass er eine Geliebte haben wird, wenn er erst den Thron bestiegen hat?«
    »Das ist ganz und gar undenkbar«, sagte Louise leise und schüttelte den Kopf.
    »Und was ist mit mir? Werde ich einen Liebhaber auf Château d’Alençon haben?«
    François brach in Gelächter aus, was sofort für Entspannung sorgte.
    »Du kannst dir ja einen aus Blois holen. Aber vergiss bitte nicht, Marguerite, wenn du schon das allmächtige Königtum ins Spiel bringst, ganz zu schweigen von den Günstlingen, dass deine Aufgaben als zweite Dame am Hofe vor deinen Verpflichtungen als Ehefrau kommen. So wird es sich der König jedenfalls wünschen.«
    »Was soll das heißen, François?«
    »Dass du an meiner Seite bleibst«, antwortete ihr Bruder prompt, »und dass keine andere Hofdame, mit Ausnahme von Claude, mir je wichtiger sein wird als du.«
    Die freimütige Antwort ihres Bruders entlockte Marguerite endlich wieder ein Lächeln. Warum nur musste sie dann gleich etwas sagen, was ihrer Mutter sehr wehtat?
    »Glaubst du wirklich, dass du eines Tages König wirst, François? Die Königin kann immer noch ein Kind bekommen.«
    »Warum sollte es ausgerechnet jetzt ein Dauphin werden? Unser Schicksal ist besiegelt«, entgegnete François ruhig.
    Mit diesen verheißungsvollen Worten hatte er sämtliche Befürchtungen
seiner Schwester ausgelöscht, und sie war auf einmal ganz heiter und fröhlich gestimmt.
    Auch wenn seine Worte ihre Mutter nicht recht überzeugt hatten, war Marguerite beruhigt. François hatte gesagt: ›Unser Schicksal ist besiegelt.‹ Davon war er überzeugt, und sie ließ sich nur allzu gern von seiner Zuversicht anstecken.
    Den Gedanken über ihren zukünftigen Gatten nachzuhängen fiel ihr dagegen schwer, weil sie nun an der Seite von Ludwig XII. majestätisch die Schlosskapelle betrat, wo sie der Bischof erwartete.
    Sie war ganz durcheinander, als sie ihre Hand ganz leicht auf den Arm des Königs legte, der sie, den Blick nach vorn gerichtet, feierlich vor den Altar führte.
    Die Orgel setzte mit ohrenbetäubendem Getöse ein, Flöten und Oboen gesellten sich mit ihren hohen, perlenden Tönen dazu, der Chor antwortete den Gamben, und die ganze Kapelle bebte von diesem Konzert, das sich zu den Spitzbögen emporschwang.
    Nach den Mitgliedern der königlichen Familie zogen die Valois, die Bourbons und die Angehörigen der anderen französischen Adelsgeschlechter in die Kapelle ein.
    François ging neben seiner Mutter und trat ganz selbstbewusst als Thronfolger auf. Königin Anne trug ihren schweren hermelingefütterten Umhang mit der langen Schleppe und schritt hocherhobenen
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