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Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Autoren: Jocelyne Godard
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während es mit seinen intellektuellen Fähigkeiten nicht weit her ist, besonders wenn man sie mit denen seiner Schwester vergleicht. Was soll’s! Marguerite brilliert überall, reden wir also heute nicht zu viel von ihr. Ich weiß, sie wird ihrem Bruder auf seinem Weg nach oben helfen.
    Marschall de Gié wird, was ihn betrifft, mir gegenüber immer herrischer – ich darf meinen Sohn nicht einmal jedes Mal umarmen, wenn mir danach ist. Seit Kurzem besteht er nun auch noch darauf, die Tür zu François’ Zimmer zu verbarrikadieren. Zwei Soldaten sind davor postiert und hindern mich stur daran hineinzugehen, indem sie ihre Hellebarden senken und damit die Türe versperren, sodass ich mir nicht einmal gewaltsam Zutritt verschaffen könnte.
    Ich glaube, de Gié ist verrückt, durch und durch boshaft und schadenfroh. Das nehme ich ihm aber nur zum Teil übel, weil es schließlich auch ihm um den zukünftigen Ruhm meines Sohnes geht. Wenigstens haben wir das gleiche Ziel. Ihn treibt einzig und allein der Gedanke an, meinen Sohn auf den Thron zu heben. Lieber Gott, könnt Ihr euch vorstellen, wie hart es dennoch für mich ist, so weit weg von François zu sein, wo es doch nur ein paar Türen sind, die uns trennen? François scheint jedenfalls nicht darunter zu leiden, dass ich ihm diese Liebe nicht mehr schenken kann. Seine Spielkameraden haben mich ersetzt.
    Jetzt reden wir aber einmal über Euch und Eure Leute, liebe Alix. Lisette hat einen kleinen Jungen bekommen, der auf den Namen Alfonso getauft wurde. Er ist ein wohlgenährtes, gesundes Kind. Ich nehme an, Lisette ist froh, wenn sie wieder in Euer Haus nach Tours kommt, weil sich das Leben als Kammerfrau nicht mehr gut mit ihren Mutterpflichten vereinbaren lässt. Bei Euch und Eurer Haushälterin Bertille ist sie bestimmt unabhängiger als hier.
    Juan redet zwar nicht viel, unterhält sich aber gelegentlich mit anderen Stallknechten und hat anklingen lassen, dass Euer Kompagnon Mathias beim Wiederaufbau Eurer Werkstätten und der Suche nach neuen Arbeitskräften wahre Wunder vollbracht haben soll. Wie es scheint, hat er Euren Wandteppich für Johanna von Kastilien fertiggestellt und die Arbeit an meiner Dame mit dem Einhorn zügig vorangetrieben. Ich glaube, Ihr könnt wirklich sehr zufrieden mit ihm sein, Alix.
    Mein Gefühl sagt mir, dass Ihr bereits wieder zurück in Tours seid – falls Ihr euch nicht doch länger als vorgesehen in der Nähe von Sire Van de Veere aufgehalten haben solltet, für den Ihr ja sehr schwärmt. Ich kann es kaum erwarten, Einzelheiten zu erfahren.
    Sobald Ihr wieder in Tours seid, wenn das nicht bereits der Fall ist, müsst Ihr mich unbedingt in Amboise besuchen. Ich möchte Euch nämlich einen Mann vorstellen, dem ich seit Kurzem die Verwaltung meiner Finanzen anvertraut habe. Sein Name ist Jacques de La Baume, und ich kenne ihn noch nicht lange. Hätte ich seine Bekanntschaft einige Monate früher gemacht, hättet Ihr Euch wegen Eurer Geldangelegenheiten vielleicht nicht auf den weiten Weg nach Brügge machen müssen. Es ist nun einmal so, meine liebe Alix, dass mein Ansehen im gleichen Maße wie meine finanziellen Möglichkeiten zunimmt, seit dem König bewusst
geworden ist, dass er niemals einen eigenen Sohn als Thronfolger haben wird.
    Ich möchte diesen Brief gemeinsam mit meiner braven Marguerite schließen, die Euch, wie ihre Mutter, ganz herzlich grüßt und küsst.
    Hochachtungsvoll
Eure Louise
    Als sie ihren Brief noch einmal durchlesen wollte, drangen laute Geräusche an ihr Ohr. Es war nicht das erste Mal, dass Louise von ihrem Fenster aus das Treiben im großen viereckigen Schlosshof beobachtete. Marschall de Gié hatte am Vorabend Reitübungen angekündigt, und von ihrem Beobachtungsposten konnte Louise sehr gut die Fortschritte ihres Sohnes verfolgen. Sie erhob sich und schob die Vorhänge zur Seite. Gié hatte nicht zu viel versprochen.
    Schon füllte sich der Ehrenhof mit seinen Männern, die ihre Pferde tänzeln ließen. Marschall de Gié stellte nämlich plötzlich selbst sehr gern sein großes Talent als Fechtmeister zur Schau. Jeden Tag führte er Degenkämpfe auf oder bewies seine Geschicklichkeit bei Schaukämpfen mit der Hellebarde oder der Hakenbüchse. Der junge François und seine Gefährten hatten nur Augen für den Fechtmeister und seine Gardeoffiziere, die flink und farbenprächtig und voller Eifer das Wappenschild ihrer Familie verteidigten.
    Louise hatte die Gemächer im Hauptgebäude, die zunächst
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