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Die Totenfrau des Herzogs

Titel: Die Totenfrau des Herzogs
Autoren: Dagmar Trodler
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unter der Kapuze verborgen war. Der Wind hatte sich eine Haarsträhne hervorgezupft und versuchte, sie von außen an den Stoff zu drücken. Doch sie wehrte sich. Immer wieder flatterte sie hoch, immer wieder drückte der Wind sie gegen den Stoff. Gérard streckte die Hand aus, um sie unter die Kapuze zu stecken, das schien ihm richtig. Alles war richtig und sein Herz so voll. Weil die Hand so zitterte, berührte sie ihre Wange.
    Ima erwachte, und sofort bedauerte er, nicht achtsamer gewesen zu sein. Der Moment war vorüber.
    Nicht ganz. Sie betrachteten einander, ungläubig, prüfend, und der Glücksschimmer, den anderen lebend vorzufinden, verteilte sich wie der Blütenstaub aus einer sich öffnenden Knospe auf beide Gesichter. Die Sonne zündete ihn an, und seine Wärme überzog die Wangen mit einem feinen Hauch. Obwohl das Meer hinter ihnen rauschte, war es still. Die Stille aus den Herzen beherrschte alles. Jedes Wort in diese Stille hinein wäre ein Sakrileg gewesen, eine Welle, die die Spur im Sand ausmerzte - viel zu endgültig. In ihren Blicken aber schwebten alle Worte des Lebens frei und ungezwungen, alles konnte sein, alles konnte werden, nichts begrenzte die Freiheit und das Glück, den anderen gefunden zu haben.
    Sie lagen nebeneinander wie zwei Kinder, die die Müdigkeit beim Spielen übermannt hatte. Sanft umhüllte sie der Wind und versuchte, sie näher zusammenzuschieben - er drückte ein wenig im Rücken, schob die Beine nach vorn, hob einen Arm, wehte ihn herüber … Ja, es war ganz sicher der Wind gewesen, der schuld daran war, dass Gérard den Arm um sie legen konnte, wo vorhin die Entfernung zwischen ihnen noch zu groß gewesen war. Ganz sicher hatte
auch der Wind sie unter seinen Arm geschmiegt und dafür gesorgt, dass dort sonst nichts störte, keine Falte, kein Sand. Er hatte ihnen einen eigenen Strand geschaffen, hatte der Sonne die Glut genommen und dem Salz den Biss. Er hatte auch den Vögeln befohlen, das Paar in Ruhe zu lassen, und so kreisten sie nur über ihnen, und ihre Schwingen fächelten ihnen das rechte Maß an Luft zu - nicht zu viel und nicht zu wenig. Der Wind hatte anderes zu tun, er bremste die Wellen und bat sie um Ruhe, damit sie die Gedanken nicht übertönten.
    Im Schatten ihrer großen Kapuze glänzten ihre Augen wie zwei Sterne. Ihre Hand umschloss seine Wange, der Daumen ruhte auf seinen Lippen, und er liebkoste ihn und bat ihn, diesen Kuss an ihr Herz zu übertragen.
    Doch ihr Herz lag vergraben unter dem Ballast, den vor dem Sturm ein einziger Satz zwischen ihnen aufgetürmt hatte, schwer wie ein Felsbrocken. Vieles hatte der Sturm fortgewaschen. Der Satz war geblieben: Ich brauche dich nicht.
    Gérard hatte über die Anstrengungen vieles vergessen - doch dieser Satz hatte sich in seinen Kopf gebrannt wie die schartige Brandspur eines glühenden Eisens. Ich brauche dich nicht. Wo der Sturm sie in seine Arme getrieben hatte, stand der Satz nun wie eine unüberwindliche Wand zwischen ihnen und verhinderte, dass er ein weiteres Mal die Hand nach ihr ausstreckte. Ich brauche dich nicht . So sah er sie nur weiter an, und das Bedauern grub sich eine tiefe Höhle in seinem Herzen. Dort nistete es sich ein und fraß an seiner Liebe.
    Langsam stand er auf, erst auf die Knie, dann auf einen Fuß gestützt, den zweiten zu Hilfe genommen … es wäre einfacher gewesen, wenn sie sich gegenseitig beim Aufstehen gestützt hätten.
    Doch der Satz verhinderte auch das.

     
    »Gibt es noch mehr Überlebende?«, fragte er mühsam. Sie nickte und setzte sich. Mit der Hand deutete sie in die Richtung, aus der jetzt die Sonne schien.
    Er nickte ebenfalls. Versuchte, dem Bedauern nicht zu viel Platz einzuräumen, es begann, ihn zu lähmen, und sein Weg war noch nicht geschafft … Ihr Haar glänzte wie Gold in der Sonne, jetzt, wo sie die Kapuze heruntergezogen hatte und aus den vom Salzwasser verfilzten Strähnen einen Zopf zu flechten versuchte. Er wusste, wie es sich auf der Haut anfühlte und er hätte viel darum gegeben … Nein. Ich brauche dich nicht.
    »Hilfst du mir?«, fragte er stattdessen. »Er sollte zu seinen Leuten gebracht werden, er braucht sein Grab.«
    Das war untertrieben. Eigentlich wussten beide nicht, wie sie den Gestank aushielten. Vielleicht half die Benommenheit. Oder das Bedauern betäubte …
    Es kostete Gérard große Überwindung, an die Bahre heranzutreten. Er wusste instinktiv, dass Ima nicht mehr in der Lage war, den Leichnam anzufassen - er wusste es, so
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