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Die Totenfrau des Herzogs

Titel: Die Totenfrau des Herzogs
Autoren: Dagmar Trodler
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floh: die Neugier, wen sie suchte. Ja - wen suchte sie? Sie wagte es nicht einmal, seinen Namen zu denken, geschweige denn, ihn auszusprechen, aus Angst, ihn damit zum Opfer der Wellen zu machen.
    Und sie kam auch kaum voran. Der Sand zog ihre Füße zu sich, je trockener er wurde. Immer tiefer sank sie in die brennenden Körnchen ein, jeder Schritt wurde zur Qual, und immer wieder musste sie anhalten und ausruhen. Niemand kam, um sie zu stören. Wahrscheinlich hatte sich herumgesprochen, dass man die angelsächsische Heilerin in ihrem Entsetzen besser in Ruhe ließ.
    Weiter hinten schlugen Rauchwolken in den Himmel. Offenbar versuchte man, die Miasmen, die der Tod aus dem Meer mitgebracht hatte, mit Feuer einzudämmen.
Das Feuer brannte den ganzen Nachmittag so hoch, dass es über den gesamten Strand zu sehen war, und als Ima sich bei Einbruch der Dunkelheit unter den Pinien hinter der Düne eine Schlafkuhle in den Sand grub, konnte sie die Flammen immer noch sehen, obwohl sie doch so weit gelaufen war. Mehr dachte sie nicht. So weit gelaufen - und niemanden gefunden. Dann wickelte sie sich in ihren zerfetzten Mantel und schlief sofort ein.
    Die Sonne weckte sie am anderen Morgen. Ima reckte sich zwischen den harten Dünengräsern - schlecht hatte sie geschlafen, war immer wieder aufgeschreckt und hatte in Alpträumen den Sturm wieder und wieder erlebt. Von Ertrunkenen hatte sie geträumt. Von fahler Haut und schlaffem Fleisch, und von Sicaildis’ schneidend-scharfem Blick. Bruder Thierry hatte sie durch die Dunkelheit angeschaut, zumindest er hatte ihr keine Angst eingejagt. Sie rieb sich das Gesicht. Noch ein Paar Augen hatte sie verfolgt, fast schwarz, mit dichten Wimpern umkränzt, mal sanft, mal ärgerlich, viel zu oft voller Leidenschaft …
    Sie hielt sich nicht weiter damit auf, es machte ihr nur die Knie weich und das Herz schwer wie Blei. Und so suchte sie einfach dort weiter, wo sie am Abend zuvor aufgehört hatte. Um die Trümmer herum, über seetangverhangene Planken und zersplitterte Wrackteile, an Toten vorbei, die in zum Teil sonderbaren Verrenkungen vom Meer am Strand abgegeben worden waren.
    Als sie Thierry fand, erstarrte ihr Herz. Es war, als schlüge ihr jemand eine Streitaxt über den Schädel. Ihre Schneide steckte so tief im Kopf, dass keine Träne das Auge verlassen konnte. Auch Thierry hatte mit dem Leben bezahlen müssen und seine Seele der See übergeben. Dafür hatte sie ihn unversehrt und vergleichsweise friedlich am Strand abgelegt, selbst die Kutte lag ordentlich über den Beinen, damit die Sonne die zarte weiße Mädchenhaut nicht verriet
und nicht verbrannte. Mit einem trockenen Schluchzer sank Ima neben ihre treue Wegbegleiterin.
    »Liebste …«, flüsterte sie fassungslos, »liebste Freundin, Freundin meines Herzens - wie kannst du mich allein lassen? Wie kannst du ohne mich gehen, wie kannst du mir deinen Trost versagen? Was mache ich nun ohne dich?« Sanft strich sie über die Wangen des Mönchs, der sein halbes Leben lang versucht hatte, die Welt zum Narren zu halten, um einer leiblichen Liebe nahe zu sein, die Gott dann doch mehr begehrt hatte als ihn und nach Jerusalem geholt hatte. Nun hatte Gott den Mönch zu sich gerufen - und Thierrys Gesicht verriet tatsächlich Erleichterung und Frieden darüber, dass die Zeiten der Verkleidung und Lügen vorbei waren. Ganz entspannt wirkten die feinen Züge, die so oft so besorgt dreingeschaut hatten und deren verborgene Traurigkeit Ima das Herz oft schwer gemacht hatten. Zuletzt nach den furchtbaren Geschehnissen in Bundicia, wo niemand ihr hatte beistehen können …
    Thierry war angekommen - wo auch immer. Ihr Gesicht verriet das. Und es verriet auch, dass Ima sich nicht grämen oder sorgen sollte. Dominus pascit me, et nihil mihi deerit. Ganz leise hörte sie, wie der Wind ihr die Botschaft zuflüsterte. In pascuis virentibus me collocavit, super aquas quietis eduxit me, animam meam refecit …
    Lange blieb sie neben der Freundin sitzen. Betete, was ihr in den Sinn kam, und nicht immer hatten ihre Worte Sinn. Doch Thierry würde das schon verstehen - und Gott sowieso.
    »Er wird dich lieben«, flüsterte sie. »Er wird deine Zartheit lieben, und deine Hingabe. Deine Fürsorge, deine Fröhlichkeit. All das wird Er lieben und dir alles verzeihen, was du glaubst, verbrochen zu haben.« Sie barg das Gesicht in den Händen. »Dabei hast du nur geliebt - nichts weiter. Was ist daran schlimm? Ach, Thierry, was soll ich nur ohne
dich
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