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Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)

Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)

Titel: Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
Autoren: Robert Wilson
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Schulter.
    Er beruhigte sich, löste sich aus seiner Haltung und hielt ihr sein Handgelenk wieder hin.
    »Ich hatte Angst vor dem, was in meinem eigenen Kopf heranwächst«, sagte er.
    »Lass uns morgen darüber reden«, sagte Alicia Aguado.
    »Nein, ich würde gern versuchen, es auszusprechen«, sagte er und legte ihre Finger auf sein Handgelenk. »Irgendwo hatte ich gelesen…, so etwas musste man zwangsläufig lesen. Die Zeitungen sind voll mit Artikeln über Kindesmissbrauch, und mir ist praktisch jede Geschichte ins Auge gefallen, weil ich wusste, dass sie relevant für mich war. Aus diesen Artikeln entnahm ich Dinge, die Zweifel in mir säten, weil ich eine Seite an mir entdeckte, der ich nicht mehr ganz trauen konnte. Die Zweifel wucherten weiter, bis sie in meinem Kopf zur Gewissheit wurden. Es war nur eine Frage der Zeit… bis… bis…«
    »Ich glaube, das ist heute zu viel für dich, Sebastián«, sagte sie. »Du kannst es nicht erzwingen.«
    »Lassen Sie mich das bitte aussprechen«, sagte er. »Nur die eine Sache noch.«
    »Was hast du diesen Artikeln entnommen?«, fragte Alicia Aguado. »Erzähl mir nur das.«
    »Ja, das war der Anfang«, sagte er. »Was ich in diesen Artikeln für mich Bedeutungsvolles entdeckte, war… dass die Missbrauchten, die Opfer selbst zu Tätern werden. Als ich es das erste Mal las, hielt ich es für unmöglich… dass ich den gleichen verschlagenen Blick wie Onkel Ignacio bekommen könnte, wenn er sich abends auf meine Bettkante setzte. Aber wenn man einsam ist, wachsen aus Zweifeln neue Zweifel, und ich fing wirklich an zu glauben, dass mir so etwas passieren könnte. Dass ich nicht in der Lage sein würde, es zu kontrollieren. Ich hatte schon bemerkt, dass Kinder mich mochten und ich sie. Ich liebte es, an ihrer Unschuld teilzuhaben. Ich war für mein Leben gern mit ihnen in ihrer unreflektierten Welt zusammen. Keine vergangenen Grausamkeiten, keine Sorgen um die Zukunft, nur die glorreiche, sich entfaltende Gegenwart. Und dann wurde der Gedanke, dass ich eines Tages etwas Unaussprechliches tun könnte, immer größer, und ich lebte in ständiger Angst davor. Bis ich es eines Tages nicht mehr aushielt und dachte, dass ich es einfach tun würde. Als dann der Moment da war… konnte ich es nicht. Ich ließ Manolo laufen, und während ich auf die Polizei wartete, ertappte ich mich dabei zu beten, dass man mich in eine Zelle sperren und den Schlüssel wegwerfen würde.«
    »Aber du konntest es nicht tun, Sebastián«, sagte sie. »Du hast es nicht getan.«
    »Meine Angst hat mir etwas anderes gesagt. Sie hat gesagt, dass es irgendwann passieren würde.«
    »Aber was hast du empfunden, als du mit der Realität deines Vorsatzes konfrontiert warst?«
    »Ich habe nichts als Ekel gespürt. Ich hatte das Gefühl, dass es etwas sehr Verkehrtes, Unnatürliches und Brutales sein würde.«

    Falcón setzte Alicia wieder in der Calle Vidrio ab und fuhr weiter nach Hause. Mit einer Flasche und einem Glas voll Eis ging er in sein Arbeitszimmer. Der Whisky schmeckte gut nach dem Tag, den er hinter sich hatte. Er legte seine Füße auf den Schreibtisch und dachte über den Mann nach, der er vor nur zwölf Stunden noch gewesen war. Der Gedanke deprimierte ihn nicht, was ihn überraschte. Er fühlte sich eigenartig entschlossen und merkte, dass es die Wut war, die ihn zusammenhielt. Er wollte Consuelo zurückhaben, und er wollte Ignacio Ortega begraben.
    Virgilio Guzmán kam pünktlich um zehn. Falcón goss auch ihm einen Whisky ein, und sie setzten sich ins Arbeitszimmer. Nach dem Ausbruch vom Vormittag hatte er erwartet, dass Guzmán ihn wegen der Vertuschungsaktion angehen würde, die er in der Jefatura witterte, doch der Journalist schien mehr daran interessiert, über seinen Urlaub auf Mallorca zu reden, den er in der kommenden Woche antreten wollte.
    »Was ist aus dem Kreuzritter geworden, der heute Morgen aus meinem Büro gestürmt ist?«, fragte Falcón.
    »Medikamente«, sagte Guzmán. »Schließlich bin ich aus Madrid nur weggegangen, um runterzukommen und ein entspannteres Leben zu führen. Kaum witterte ich diese Story, flippte ich aus. Mein Blutdruck schoss durchs Dach. Jetzt habe ich ein Beruhigungsmittel genommen, und ich muss sagen, gefiltert ist das Leben ziemlich nett.«
    »Heißt das, Sie lassen die Story fallen?«
    »Auf ärztliche Anweisung.«
    Sie saßen schweigend da, während Falcón die Glaubwürdigkeit dieser Aussage erwog.
    »Hat irgendjemand mit Ihnen gesprochen,
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