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Die Tote

Die Tote

Titel: Die Tote
Autoren: Marion
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einem Flanellnachthemd hervor, das bis zu den Knöcheln reichte. Der Körper lag zusammengekauert am Fuß der Uhr, die Hände im Badetuch festgekrallt, die Arme um die angewinkelten Knie gelegt.
    »Was ist hier passiert?«, fragte Charlotte, ohne den Blick von der Toten zu nehmen.
    »Das wüsste ich auch gern«, antwortete Wedel mit rauer Stimme.
    Er schnaufte ein bisschen, und Charlotte fragte sich, wieso er als Mediziner so wenig Rücksicht auf seine Gesundheit nahm. Sie schätzte sein Gewicht auf hundertfünfzig Kilo oder mehr.
    »Also«, schnaufte Wedel weiter, »das Mädchen ist vielleicht sechzehn Jahre alt, möglicherweise ein bis zwei Jahre älter.«
    »Todesursache?«, wollte Charlotte wissen.
    »Tja, dazu wollte ich gerade kommen, werte Frau Hauptkommissarin, denn das ist wirklich seltsam.« Er beugte sich zu der Toten hinunter und deutete auf eine etwa pflaumengroße Platzwunde etwas oberhalb der Ohrmuschel. Blut klebte im Haar.
    »Ist das die Todesursache?«, fragte Charlotte ungläubig.
    »Das halte ich für unwahrscheinlich, obwohl sie ihr kurz vor ihrem Tod zugefügt worden sein muss. Gestorben ist sie wahrscheinlich in den frühen Morgenstunden, gegen drei oder vier Uhr. Über die Ursache kann ich noch nichts sagen.«
    »Das heißt, sie ist noch keine vier Stunden tot?«
    »Genau.«
    In diesem Moment sah Charlotte einen hochgewachsenen, schlanken Mann mit vollem dunklem Haar und Dreitagebart auf sie zukommen. Charlotte rümpfte die Nase.
    »Morgen, Schliemann«, hieß sie ihn murrend willkommen.
    »Morgen, Kollegin.«
    Charlotte gab einen undefinierbaren Laut von sich. Sie war seine Vorgesetzte, aber irgendwie schien das noch nicht bei ihm angekommen zu sein. Er schien sie eher als jagdbares Wild zu betrachten, wie er das mit allen weiblichen Beamtinnen der   KFI   1   zu tun pflegte. Dummerweise kam er bei den Kolleginnen entschieden zu gut an. Charlotte bezeichnete den zentralen Kriminaldienst insgeheim als Schliemanns Harem. Nur Rüdiger wusste davon, und der fand, dass sie maßlos übertrieb.
    Charlotte hatte keine Lust, Schliemann ins Bild zu setzen. Sollte der sich seine Informationen selbst von Wedel besorgen. Sie ging in die Knie und betrachtete das Gesicht der Toten. Es war makellos, bis auf einen kleinen Aknepickel, der ihr Kinn verunzierte. Eine kindliche Stupsnase erhob sich über schmalen Lippen. Lange dunkle Wimpern rahmten die geschlossenen Lider. Ein Kind, dachte Charlotte. Ein Kind, das offensichtlich von zu Hause weggelaufen war. Einem Zuhause, das es schlecht behandelt hatte? So schlecht, dass es jetzt tot an der Kröpcke-Uhr lag.
    Wie auch immer, dachte Charlotte und erhob sich. Wer immer für dieses Kind verantwortlich gewesen war, musste sich auf ein paar unbequeme Fragen gefasst machen.
    Als Charlotte eine knappe halbe Stunde später ihr Büro betrat, wartete dort ein beunruhigter Kriminalrat Herbert Ostermann auf sie. Dass er beunruhigt war, erkannte sie, noch bevor er ein Wort gesagt hatte, denn er war mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor ihrem Schreibtisch auf und ab gelaufen. Allerdings hatte Charlotte keine Ahnung, wieso ihr Chef sich überhaupt noch aufregte, denn er befand sich sozusagen in seinen letzten Arbeitszügen. In zwei Wochen sollte er in den Ruhestand versetzt werden. Und dieser Tag sollte seiner Meinung nach würdig begangen werden. Seine Sekretärin, Frau Kaiser, war seit Wochen mit der Planung seiner Abschiedsfeier beschäftigt. Charlotte – und die meisten ihrer Kollegen – würden die Party allerdings erst nach Ostermanns Ausscheiden feiern. Aber davon wusste ihr Chef nichts, und das sollte auch so bleiben.
    »Frau Wiegand«, empfing er seine Erste Hauptkommissarin und schloss die Tür hinter ihr, »ich habe schon auf Sie gewartet. Was hab ich da gehört von einem toten Mädchen am Kröpcke?«
    »Richtig«, Charlotte warf ihre Autoschlüssel auf den Schreibtisch, »ein totes junges Mädchen. Mehr weiß ich auch noch nicht.«
    »Das ist höchst ärgerlich, zu diesem Zeitpunkt«, murmelte Ostermann, und noch bevor Charlotte ihn fragen konnte, wann denn für ein junges Mädchen der richtige Zeitpunkt zum Sterben sei, fuhr er bereits fort: »Sie wissen, dass ich meinen Arbeitsplatz …«, bei diesem Ausdruck hielt er einen Moment die Luft an, »aufgeräumt hinterlassen möchte. Sie bekommen jede Hilfe, die Sie brauchen, aber sorgen Sie um Himmels willen dafür, dass ich diese Dienststelle nicht mit dem ungeklärten Todesfall eines jungen Mädchens
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