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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See
Autoren: Raymond Chandler
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dann noch leben.«
    »Gut, gut«, sagte er erneut und mit der gleichen sanften Stimme. Und
    starrte mich weiter an. »Verlieren Sie viele Ihrer Klienten?« fragte er.
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    »Keinen, der mich richtig behandelt«, sagte ich.
    »Mögen Sie eine Zigarre?« sagte er.
    Ich nahm eine Zigarre und steckte sie in die Tasche.
    »Ich möchte, daß Sie meine Frau finden«, sagte er. »Sie ist seit ei‐
    nem Monat verschwunden.«
    »Gut«, sagte ich. »Ich werde Ihre Frau finden.«
    Er legte beide Hände auf den Schreibtisch. Er sah mich fest an.
    »Ich glaube, Sie werden’s schaffen.« Dann lächelte er. »So bin ich
    seit Jahren nicht mehr zurechtgestaucht worden«, sagte er.
    Ich sagte nichts.
    »Und verdammt noch mal«, sagte er, »es hat Spaß gemacht. Rich‐
    tig Spaß.«
    Er fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes, dunkles Haar. »Sie
    ist seit einem ganzen Monat verschwunden«, sagte er. »Aus dem
    Ferienhaus, das wir in den Bergen haben. In der Nähe von Puma Point. Kennen Sie Puma Point?«
    Ich sagte, daß ich Puma Point kenne.
    »Unser Ferienhaus liegt drei Meilen vom Dorf entfernt«, sagte er.
    »Man erreicht es teilweise nur über eine Privatstraße. Es liegt an einem privaten See. Little Fawn Lake. Es gibt da einen Damm, den
    wir drei da errichten ließen, um unsere Anwesen abzusichern. Der Platz gehört mir und zwei andern Männern. Er ist ziemlich groß, aber unerschlossen, und das wird er noch einige Zeit bleiben. Meine
    Freunde haben Blockhütten, ich habe ein Blockhaus, und ein Mann,
    der Bill Chess heißt, lebt mit seiner Frau mietfrei in einem weiteren
    Haus und kümmert sich um das Ganze. Er ist kriegsversehrt und bezieht Pension. Sonst ist dort niemand. Meine Frau ist Mitte Mai hinaufgefahren, sie kam zweimal zum Wochenende runter und sollte eigentlich am 12. Juni zu einer Party wieder hierher kommen, zeigte sich aber nicht mehr. Ich habe sie seit damals nicht mehr gesehen.«
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    »Haben Sie was unternommen?« fragte ich. »Nichts. Absolut
    nichts. Ich bin nicht mal raufgefahren.« Er wartete darauf, daß ich ihn fragte, warum. Ich sagte: »Warum?«
    Er schob seinen Stuhl zurück, um eine abgeschlossene Schublade
    zu öffnen. Er nahm ein gefaltetes Papier aus ihr und gab es mir. Ich
    faltete es auf und sah, daß es ein Telegramm war.
    Das Telegramm war in El Paso am 14. Juni um 9 Uhr 19 aufgege‐
    ben worden. Es war an ›Derace Kingsley, 975 Carson Drive, Beverly
    Hills‹ adressiert und sein Text lautete: AUF DEM WEG ÜBER GRENZE
    WEGEN MEXIKANISCHER SCHEIDUNG STOP WERDE CHRIS HEIRATEN
    STOP ALLES GUTE UND LEB WOHL CRYSTAL!
    Ich legte das Telegramm auf meiner Seite des Tisches hin, und er
    reichte mir ein großes, ziemlich scharfes Hochglanzfoto, auf dem ein
    Mann und eine Frau am Strand unter einem Sonnenschirm im Sand
    saßen: Der Mann hatte Badehosen an und die Frau trug eine Win-zigkeit, die wie ein sehr kühner Badeanzug aus Haifischhaut aussah.
    Sie war eine schlanke Blondine, jung, wohlgeformt, lächelnd. Er war
    ein strammer, dunkler, hübscher Kerl, mit tadellosen Schultern und
    ebensolchen Beinen, glattem dunklem Haar und weißen Zähnen.
    Die Einmeterachtzig‐Ausführung des Hausfriedensbrechers, Arme
    wie für Umarmungen konstruiert und all seinen Verstand im hüb‐
    schen Gesicht. Er hielt eine Sonnenbrille in der Hand und lächelte ein oft geprobtes gewinnendes Lächeln in die Kamera.
    »Das ist Crystal«, sagte Kingsley, »und das hier Chris Lavery. Sie
    kann ihn haben, und er kann sie haben. Meinetwegen können die beiden zum Teufel gehen.«
    Ich legte das Foto auf das Telegramm. »Gut. Und wo ist der Haken
    bei der Geschichte?« fragte ich.
    »Es gibt dort oben kein Telefon«, sagte er. »Und die Party, zu der
    sie herunterkommen sollte, war nichts Wichtiges. Ich bekam also das Telegramm, noch bevor ich mir überhaupt Sorgen gemacht hatte. Auch das Telegramm hat mich nicht besonders überrascht. Cry‐
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    stal und ich, wir haben den großen Aufwasch schon längst hinter uns. Sie lebt ihr Leben, ich meins. Sie hat ihr eigenes Geld, und zwar
    ’ne ganze Menge. Rund 20.000 im Jahr aus einer Holding ihrer Fami‐
    lie, die einige wertvolle Ölquellen in Texas besitzt. Sie flirtet durch die Gegend, und ich wußte, daß Lavery einer ihrer Flirts war. Natürlich war ich etwas erstaunt, daß sie ausgerechnet ihn heiraten woll‐
    te, denn er ist nichts weiter als ein Weiber‐Profi. Aber das Foto sieht einigermaßen überzeugend aus, finden Sie nicht?«
    »Und dann?«
    »Zwei Wochen
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