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Die Tochter des Teufels

Die Tochter des Teufels

Titel: Die Tochter des Teufels
Autoren: Heinz G. Konsalik
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abzulegen, sein Hemd, seine Stiefel zog er aus und seine dicken Wollstrümpfe. Barfüßig und mit nacktem Oberkörper stand er im Frost und lächelte.
    »Aufhören!« schrie der Pope wieder und drängte sich vor. Er bückte sich und warf dem blöden Kustja die Fufaika über. »Er überlebt es nicht!«
    Rasputin schwieg. Er trat an Kustja heran, riß die Steppjacke wieder herunter und zeigte auf die Hosen.
    »Zieh sie aus!« sagte er mit schmeichelnder Stimme.
    Väterchen Pjotr, der Pope, wich zurück. Kustja streifte die Hose herunter und stand nun nackt in dem verharschten Schnee. Durch die Menge lief ein Murmeln.
    »Leg dich hin, Brüderchen Kustja«, sagte Rasputin, und Kustja tat es.
    Mit klappernden Zähnen harrte die Menge eine Stunde aus. Sie starrte auf den stummen Kustja, der noch immer auf dem Schnee lag, als liege er in einem warmen Bett. Väterchen Pjotr betete laut. Für ihn war Kustja bereits tot. Das Thermometer zeigte 34 Grad Frost …
    »Steh auf, Brüderchen«, sagte Rasputin, als die Stunde verstrichen war. »Zieh dich an, geh nach Hause und freue dich. Die Hand Gottes war über dir.«
    Ein Stöhnen flog durch die dichtgedrängte Menge, als sich Kustja gehorsam erhob, seine Kleider wieder überzog und davonging. Wo er vorbeikam, befühlte man sein Gesicht, seine Hände; sie waren warm. Und jeder, der ihn berührte, bekreuzigte sich, wandte sich um zu Rasputin und senkte den Kopf.
    »Seht ihr es nun?« rief von der Tür eine helle Kinderstimme. »Mein Väterchen ist ein Mann Gottes!«
    Mit ausgebreiteten Armen ging Rasputin auf Nadja zu, hob sie hoch und drückte sie an sein Herz. Über ihre langen, schweren Locken hinweg sah er auf die schweigende Menge. Und alle schämten sich.
    Am nächsten Morgen suchte man überall im Haus und im Dorf den Staretz. Vergeblich war's. In der Nacht war Rasputin gegangen, und keiner hatte ihn gesehen.
    Helena Feodorowna schloß sich ein in ihrem Zimmer und weinte tagelang. Sie saß vor einem Bild des heiligen Johannes von Tobolsk, das Rasputin ihr mitgebracht hatte.
    Die Jahre der Einsamkeit begannen wieder.
    Am 30. Juli 1904 donnerten Kanonenschüsse über die Newa und St. Petersburg. Die Leute auf den Straßen blieben stehen, die Fuhrwerke hielten an, in den Häusern und den Büros trat man an die Fenster.
    Hunderttausend Menschen zählten mit.
    Und dann flog ein befreites Lachen über die ganze Stadt, die Menschen umarmten sich … ein Junge. Ein Junge ist's. Geboren ist endlich der Zarewitsch! Nach vier Töchtern hat Gott den Zar gesegnet! Alexandra Feodorowna, die Zarin, sei gelobt!
    In den Kirchen sangen die Priester den Dank, die Glocken läuteten. Rußland hatte den Erben der Krone. Das Geschlecht der Romanows lebte weiter …
    Aber schon ein paar Wochen nach der Geburt des Zarewitsch Alexej senkte sich Sorge über den Sommerpalast Zarskoje Selo, zwanzig Werst von Petersburg entfernt, wo Zar Nikolaus II. mit seiner Familie am liebsten wohnte.
    Eine Nabelblutung des kleinen Alexej kam nicht zum Stillstand. Trotz Druckverband, trotz der besten Ärzte Rußlands … aus der winzigen Wunde sickerte unaufhaltsam Blut. Kein Schorf bildete sich, kein Zeichen von Gerinnung.
    Um das Bett des kleinen Zarewitsch saßen mit ernsten Mienen die Ärzte. Die Zarin betete in einem Nebenzimmer, der Zar ging nervös hin und her. Er begriff es nicht, daß eine Wunde ständig bluten kann.
    In diesen Stunden wurde die schreckliche Wahrheit geboren. Professor Dr. Fedorow, der berühmteste Chirurg Petersburgs, sprach es aus, und Dr. Derewenko, der Leibarzt des kleinen Zarewitsch, hörte mit bleichem Gesicht zu. »Seine Kaiserliche Hoheit hat die Hämophilie«, sagte Professor Fedorow. »Der Zarewitsch ist ein Bluter.«
    Wie ein Todesurteil war das. Dr. Derewenko wußte es genauso wie Professor Fedorow. Kein Mittel gab es gegen die Bluterkrankung … nur lindern konnte man und hoffen. Hoffen, daß der Körper selbst die Blutung einstellte, oder wehrlos dabei sitzen, wie sich der Körper ausblutete.
    »Wer sagt es dem Zaren?« fragte Dr. Derewenko leise, als Professor Fedorow die Decke wieder über den winzigen Körper des Zarewitsch breitete. »Wie sagt man es ihm?«
    »Ich werde es übernehmen.« Professor Fedorow ging zur Tür des Vorzimmers. »Zu schweigen wäre ein Verbrechen …«
    Von diesem Tag an wurde der Hof des Zaren in Zarskoje Selo zu einem Treffen der ›Wundermänner‹. Konnten schon die besten Ärzte Rußlands nicht helfen, so lag nun die ganze Hoffnung bei jenen
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