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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen
Autoren: Michael Swanwick
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Doughnut. Sie ging hinein.
    Als sie näher kam, legte er sein Doughnut auf den Teller, betupfte sich die dünnen Lippen mit seiner Serviette und lächelte höflich. »Da bist du ja.«
    »Ja«, sagte sie. »Aber wo bin ich?«
    »Da, wo du stets gewesen bist; nur deine Wahrnehmungsweise hat sich geändert.« Der Baldwynn stand auf. »Folge mir!«
    Er führte sie hinter die Theke und öffnete eine Tür, die sie für die Tür zur Besenkammer gehalten hatte. Sie gingen hindurch.

    Sie waren wohl in einem Zimmer. Oder an irgendeinem Platz oder womöglich überhaupt nirgendwo. Sie hätte es nicht sagen können, denn ihre gesamte Aufmerksamkeit wurde von dem Gegenstand vor ihr aufgesogen und verschlungen.
    Sie stand vor dem Schwarzen Stein.
    Er war gewaltig, mindestens dreimal so groß wie sie. Aber es gab für seine Ausmaße keine Vergleichsmöglichkeit. Er hätte von jeder Größe sein können - größer als Welten, größer als Sterne. Seine Oberfläche war glatt und unregelmäßig. An einigen Stellen war sie wie bei einem Meteoriten nahezu glasig, zernarbt und spiralig gewunden. Größtenteils jedoch war sie schwarz, fest und wirklich. Jane hatte überhaupt keinen Zweifel daran, daß er die Inkarnation der Göttin darstellte.
    »Du darfst alles fragen, was du willst«, sagte der Baldwynn und ging.
    Jane blickte zum Schwarzen Stein hinauf. Lange Zeit sprach sie kein Wort. Dann räusperte sie sich und fragte: »Warum?«
    Es erfolgte keine Antwort.
    »Warum?« fragte sie erneut. »Warum ist das Leben so abscheulich? Warum gibt es Schmerz? Warum schmerzt der Schmerz sosehr? Hättest du die Dinge nicht anders einrichten können? Oder blieben dir nicht mehr Wahlmöglichkeiten als uns? Gibt es so etwas wie eine Wahl? Sind wir nichts weiter als Automaten? Warum gibt es Liebe? Hast du uns lediglich erschaffen, damit wir bestraft werden können? Warum werden wir bestraft? Worin bestand unsere Sünde? Wie konnte eine Mutter die eigenen Kinder nur so behandeln? Liebst du uns nicht? Haßt du uns? Sind wir Teile deiner selbst? Bist du so hungrig nach Gefühlen, daß du Teile deiner selbst in uns inkarnierst, damit du Beschränktheit, Furcht und Schmerz erfährst? Ist Allwissenheit so schlimm? Was ist Tod? Was wird aus uns nach dem Tod? Hören wir einfach auf zu sein? Haben Sterbliche mehr als ein Leben? Gab es ein Leben vor diesem einen? Haben darin etwas Unverzeihliches getan? Wird es weitere Leben geben? Werden sie schlimmer sein? Kannst selbst du sterben? Warum gibt es Schönheit, wenn du uns sosehr haßt? Beruht unser Elend darauf, daß es Schönheit gibt? Wären wir glücklicher ohne Schönheit? Warum gibt es Freude? Was genau willst du?«
    Es erfolgte keine Antwort.
    Eine Zeitspanne, die Stunden, Tage, Zeitalter umfassen mußte, stand Jane reglos vor dem Schwarzen Stein, ehe sie sich schließlich abwandte. Der Baldwynn war neben ihr aufgetaucht und führte sie am Ellbogen davon.

    Der dunkle Wald barg jetzt keine Schrecken mehr für sie. In einem Baum in der Nähe öffneten sich jäh siebzehn Augenpaare. Es waren bloß Augen. Gummiartige Hände griffen nach ihr. »Fühlst du dich jetzt besser?« fragte der Baldwynn.
    »Ja.«
    »Die Göttin hat mich angewiesen, dir jeden Wunsch zu erfüllen.«
    »Oh.«
    »Was willst du?«
    »Ich möchte bestraft werden«, sagte Jane. Sie wußte nicht, was sie sagte. Die Worte rutschten ihr ohne eigenes Zutun heraus, und sie war selbst erstaunt darüber zu hören, was sie gesagt hatte. Aber sie wollte die Worte nicht zurücknehmen. Sie erkannte die Wahrheit, wenn sie sie hörte.
    Für lange Zeit sprach der Baldwynn kein Wort. Schließlich fragte er: »Wirst du der Göttin jetzt dienen? Wissend, liebend, gehorsam und in bescheidener Anerkennung dessen, was sie ist?«
    »Nein.« Das Wort war wie ein Kieselstein in ihrem Mund. Sie spuckte es aus. »Nicht jetzt, nicht morgen, selbst dann nicht, wenn ich eine Million Jahre alt werde. Niemals.«
    Der Baldwynn blieb stehen und nahm ihre Hände in die seinen. »Liebes Kind«, sagte er, »ich hatte schon befürchtet, daß du ein hoffnungsloser Fall bist.«

    Sie war wieder im Labor. Jane saß auf einem Hocker, schüttelte den Kopf und sprang hinab.
    Ihre Mutter sah von den Armaturen am Mikromanipulator auf. »Du bist zurück«, stellte sie fest. »War der Ausflug nett?«
    Jane konnte sich nicht zum Sprechen überwinden. Sie trat zu dem Laborplatz hinüber und machte sich daran, den schludrigen Papierstapel durchzublättern. Es waren alles Fotokopien
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