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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen
Autoren: Kim Edwards
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Zeitungspapier über die weißen Steinreihen hinwegflog. Wolken stellten sich der Sonne in den Weg und hinterließen Muster auf dem Boden, Sonnenlicht blitzte über die Grabsteine, das Gras und die Bäume. Äste knackten leise, und das hohe Gras raschelte.
    Zunächst waren es nur dünne Klänge, fast ein Unterton des milden Windes, so zart, daß er sich anstrengen mußte, sie zu hören. Er drehte sich um. Phoebe, die immer noch am Grab stand und den dunklen Granitrand berührte, hatte angefangen zu singen. Das Gras über den Gräbern bog sich, und die Blätter gerieten in Bewegung. Es war ein Kirchenlied, das ihm vage bekannt war. Ihre Worte waren unverständlich, doch ihre Stimme war klar und lieblich, so daß andere Besucher in ihre Richtung schauten, zu Phoebe mit ihrem dunklen Haar, ihrem Brautjungfernkleid, ihrer gebeugten Haltung, ihren undeutlichen Worten, ihrer unbekümmerten, vollen Stimme. Paul schluckte und sah auf seine Schuhe. Ihm wurde klar, daß |524| er den Rest seines Lebens hin und her gerissen sein würde; er war sich Phoebes Unbeholfenheit bewußt, gleichzeitig war er beglückt von ihrer unvermittelten und arglosen Liebe.
    Von ihrer Liebe, ja. Und von seiner eigenen, neuen und seltsam unkomplizierten Liebe zu ihr, wie ihm im Strom der Töne klar wurde.
    Ihre klare und helle Stimme schwebte im Sonnenlicht. Sie plätscherte auf den Kies, auf das Gras. Er stellte sich vor, daß die Töne in die Luft tauchten wie Steine ins Wasser, wie sie die unsichtbare Oberfläche der Welt durchbrachen. Eine Woge von Tönen, eine Woge von Licht: Sein Vater hatte versucht, alles festzuhalten, doch die Welt war fließend und unfaßbar.
    Die Worte des alten Kirchenlieds kamen ihm wieder ins Gedächtnis, und Paul stimmte in den Gesang ein. Phoebe schien es nicht zu bemerken. Sie sang weiter und nahm seine Stimme hin wie den Wind. Ihre Töne flossen ineinander, und die Musik war in ihm, summte in seinem Körper. Ihre Stimme ein Zwilling seiner eigenen. Als das Lied vorbei war, rührte sie sich im blaßklaren Nachmittagslicht nicht von der Stelle. Der Wind drehte, drückte Phoebes Haar an ihren Nacken und wirbelte das Laub an der Steinbegrenzung auf.
    Alles verlangsamte sich – bis die ganze Welt in diesem schwebenden Augenblick festgehalten wurde.
    Paul stand mucksmäuschenstill da und wartete, was als nächstes passieren würde.
    Ein paar Sekunden lang passierte nichts.
    Denn drehte sich Phoebe langsam um und strich ihren zerknitterten Rock glatt. Es war eine einfache Bewegung, und doch setzte sie die Welt wieder in Gang.
    Paul fiel auf, wie kurz ihre Fingernägel geschnitten waren, wie zierlich ihr Handgelenk gegen den Grabstein aus Granit wirkte. Die Hände seiner Schwester waren klein, genau wie die ihrer Mutter. Er schritt über den Rasen und faßte sie sanft an der Schulter, um sie nach Hause zu bringen.

    ***

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    |526| »Am meisten hat mich dieses Geheimnis im Herzen einer Familie fasziniert«
Bonusmaterial zu Kim Edwards’ Roman »Die Tochter des Fotografen«

Das Buch
    A ls der angesehene New Yorker Verlag Viking 2005 Kim Edwards’ Roman »Die Tochter des Fotografen« (engl.: »The Memory Keeper’s Daughter«) herausbringt, sind die Erwartungen moderat. Die gebundene Ausgabe verkauft sich dann ordentlich, die Besprechungen sind wohlwollend – ein freundlicher, überschaubarer Erfolg. Ende Mai 2006 liefert Penguin das Taschenbuch im Premiumformat aus. Bereits im Juli sind knapp 800 000 Exemplare verkauft, und das Buch steht auf Platz eins der US-Bestsellerliste. Mit über fünf Millionen Exemplaren ist das Buch inzwischen eines der bestverkauften der letzten Jahre.
    Es waren nicht die großen Buchketten oder gigantische Marketingbudgets, die diesen Erfolg ermöglicht haben, es waren die unabhängigen Sortimenter und die Mundpropaganda begeisterter Leser. Nicht zuletzt spielten bei diesem Siegeszug die einflussreichen »reading groups« eine entscheidende Rolle. Diese privat organisierten Lesezirkel erfreuen sich jenseits des Atlantiks – und übrigens auch in Deutschland – einer zunehmenden Beliebtheit. Ihr bevorzugter Lesestoff ist anspruchsvolle Unterhaltungsliteratur, die über die Lektüre hinaus wirkt, indem sie moralische Konflikte oder fremde Welten darstellt. Insofern nimmt es kein Wunder, dass Kim Edwards’ Roman zum Lieblingsbuch von Millionen Lesern avancierte.

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Die Autorin
    K im Edwards arbeitet als Lehrerin in Kambodscha, als ihr Mann eine Stelle an der Universität
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