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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
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die Kanzel zu stürzen, als könne er es nicht erwarten, das Evangelium zu verkündigen, und liefe Gefahr, mit der Predigt zu beginnen, bevor er seine erhöhte Position erreicht hatte, wenn er sich nicht beeilte. Obwohl er in diesem Jahr siebzig geworden war, hatte er noch volles Haar und hielt sich kerzengerade. Ich muss gestehen, dass ich seine Worte von jenem Tag nicht wiedergeben kann, doch an den Tonfall erinnere ich mich noch sehr gut. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er uns mit Höllenfeuer und Verdammnis drohen würde, wie der Geistliche in Billerica es tat. Doch stattdessen las er aus den Epheserbriefen und sprach freundlich über die Kinder des Lichts. Später erfuhr ich, dass der Mann, der mit finsterer Miene in der ersten Reihe saß, sein Widersacher, der Reverend Thomas Barnard, war. Bei unserem Eintreten hatte er uns forschend gemustert, die Lippen geschürzt und tadelnd den Kopf geschüttelt, als ich nicht bescheiden den Blick senkte. Während ich leise übte, das Wort »Epheser« auszusprechen, sah ich mich verstohlen nach Andrew und Tom um. Andrew hatte den Kopf in die Hände gestützt. Doch Tom beobachtete den Reverend gebannt. Im nächsten Moment bemerkte ich eine dunkle Gestalt hinter ihm. Mir blieb der Mund offen stehen, sodass mir das Kinn gegen die Kehle stieß. Es war, als hätte einer der Schatten auf der Empore plötzlich eine feste Form angenommen, denn hinter meinen Brüdern saß ein verwachsenes und verkrüppeltes Kind, das so schwarz war wie das Innere eines Kessels. Ich hatte zwar schon von schwarzen Sklaven gehört, aber noch nie selbst einen gesehen. Die Augen schienen ihm aus den Höhlen zu quellen, und er zuckte ständig mit dem Kopf, als wolle er ein stechendes Insekt vertreiben. Ich starrte ihn an, bis er meinen Blick spürte, woraufhin er Grimassen schnitt und mir die Zunge herausstreckte, sodass ich beinahe laut losgelacht hätte. Aber meine Mutter versetzte mir einen heftigen Rippenstoß, und so wandte ich mich wieder zum Reverend um.
    Sobald der Gottesdienst nach vielfachem Aufstehen und Hinsetzen und dem Absingen von Psalmen endlich vorbei war, traten wir schweigend hinaus in den Schnee. Es war ein schöner Tag, und die Mittagssonne strahlte. Ich wartete darauf, dass meine Brüder und der seltsame kleine Schattenjunge herauskamen. Andrew tauchte auf und war unsicher auf den Beinen, sodass Tom ihm in den Karren helfen musste. Als ich den schwarzen Jungen entdeckte, lief ich zu Richard hinüber und zupfte ihn so lange am Ärmel, bis er stehen blieb und mir seine Aufmerksamkeit schenkte. Er erklärte mir, der Junge sei ein Sklave und gehöre Lieutenant Osgood, einem der Stadträte. Ich stand da und starrte das Kind an, das für dieses Wetter viel zu leicht bekleidet war. Der Mantel seines Herrn, den der Junge im Arm hielt, schien hingegen recht warm zu sein. Wir schnitten Grimassen, bis der Lieutenant aus dem Gebäude trat, seinen Mantel anzog und aufs Pferd stieg. Der Junge folgte ihm zu Fuß, wobei er mit seinen viel zu großen Schuhen immer wieder im Schnee ausrutschte. Ich blickte dem Jungen und dem Reiter nach, bis sie am Haverhill Way nicht mehr zu sehen waren.

    Bei unserer Ankunft zu Hause ließ sich nicht mehr leugnen, dass Andrew krank war. Vater trug ihn zum Kamin und legte ihn auf die Pritsche. Mein Bruder redete wirres Zeug, klammerte sich an die Decke und warf sie dann wieder von sich, weil er abwechselnd an Schüttelfrost und Fieber litt. Großmutter betastete sein Gesicht, kniete sich neben ihn und öffnete vorsichtig sein Hemd. Die Anfänge eines roten Ausschlages auf Brust und Bauch waren nicht zu übersehen. Mutter stand neben der Pritsche. Ihre Hand schwebte dicht über den feuerroten Flecken.
    »Es könnte alles Mögliche sein«, verkündete sie trotzig, ja, sogar zornig. Doch als sie sich die Hände an der Schürze abwischte, roch ich die Furcht in den Falten ihres Rockes.
    »Bald wissen wir mehr … vielleicht schon morgen«, sagte Großmutter leise, während sie meinem Bruder das Hemd zuschnürte. Anschließend untersuchte sie uns alle auf Anzeichen von Fieber und roten Flecken und begann dann ohne ein Wort, das Abendessen für uns und für Andrew einen Tee gegen das Fieber zu kochen. Wir aßen schweigend. Nur das Knistern des Feuers und ein leises Stöhnen aus der Ecke, wo Andrew lag, waren zu hören. Großmutter und Mutter kühlten ihm die Stirn und versuchten, ihm etwas zu trinken einzuflößen. Vater saß so nah am Feuer, wie es ging, ohne sich
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