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Die Tochter Der Goldzeit

Die Tochter Der Goldzeit

Titel: Die Tochter Der Goldzeit
Autoren: Jo Zybell
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der Milchflasche, dass Katanja sie mit beiden Händen festhalten musste. Durch die Strähnen ihrer schwarzen Locken hindurch sah sie ihre Mutter Mai vor der Brombeerhecke sitzen und mit der Flöte in den Himmel deuten. Neben ihr legte der Lehrer Weronius seinen Kopf in den Nacken und blickte ebenfalls hinauf: Zwei große weiße Vögel kreisten hoch über der Lichtung.
    Ein Erwachsener nach dem anderen spähte nun in den wolkenlosen Himmel; einige stießen Rufe des Erstaunens aus, manche ruderten mit den Armen, um andere auf das Vogelpaar aufmerksam zu machen. Katanja erschienen die Vögel zwar größer und weißer als alle Vögel, die sie bisher über der Lichtung, im Torwald oder unten in den Volieren der Bergstadt gesehen hatte, doch die Aufregung der Erwachsenen verstand sie dennoch nicht: Zwei große weiße Vögel kreisten über der Lichtung - na und?
    Sie drückte ihre Stirn gegen die des Lammbocks, murmelte ihm zärtliche Worte ins Ohr. Polder drängte sich neben sie und stieß dem schwarzen Tierchen die Schnauze in die Flanke. »Weg!« Sie trat nach dem jungen Hütedogger. »Das Lamm gehört mir!« Winselnd wich Polder zurück. »Mir ganz allein!«
    Dann geschah etwas Seltsames: Ein fremder Gedanke kroch durch ihren Kopf. Das hatte Katanja noch nie erlebt. Ein fremder Gedanke? Sie schloss die Augen und hörte ihm zu. Er kreiste um etwas Wertvolles. Vielleicht um einen Schatz? Nicht, dass der Gedanke ihr Angst machte, doch er gehörte ihr nicht. Er gehörte überhaupt niemandem, den sie kannte.
    Katanja öffnete die Augen, zog dem Lammbock die Milchflasche aus dem Maul und sprang aus dem Gras auf. Ein Gedanke, der niemandem gehörte, den sie kannte? Sie lauschte zum Waldrand hinüber. Dort starrten jetzt alle in den Himmel.
    Der Lammbock wich vor dem kläffenden Hütedogger zurück. Ein paar Schritte unter Katanja balgten sich zwei Jungen am Wiesenhang. Andere Kinder feuerten sie an, die einen Janner, die anderen Friedjan. Beide dachten längst nicht mehr an das schwarze Lamm, um das sie in Streit geraten waren, dachten nur noch ans Siegen. Mit ihrer Milchflasche hatte Katanja das Lamm von ihnen weggelockt. Polder trieb es nun immer weiter dem Waldrand entgegen; er kläffte.
    Sie hörte es nicht, hörte kaum die Anfeuerungsrufe der anderen Kinder - sie lauschte in den Wald hinein. Aus ihm war der fremde Gedanke in ihren Kopf gekrochen. Woher sie das wusste? Sie wusste es einfach.
    Auch dass der fremde Gedanke niemandem gehörte, den sie kannte, wusste sie einfach. Dann aber konnte er nur einem Fremden gehören, oder? Katanja wollte nichts bei sich haben, das ihr nicht gehörte, außerdem musste ihr Vater von dem Gedanken erfahren und von dem Fremden vor allem. Sie ließ das Lamm und den Hütedogger allein und lief los.
    Sie rannte den Hang hinauf durch das hohe Gras der Lichtung. Das war ihre ganze Welt: die Lichtung zwischen den Waldrändern, der Wald zwischen der Lichtung und dem Haupttor von Altbergen, die Stadt im Berg selbst natürlich und vor allem die Menschen von Altbergen. Weiter reichte ihre Welt noch nicht.
    Viele Menschen dieser kleinen Welt tummelten sich dort an jenem Tag, mehr als Katanja damals schon zählen konnte, viel mehr. Sie spielten, sie sangen, sie dösten im Gras, sie erzählten einander Geschichten, sie stillten ihre Säuglinge, sie hüteten ihre Kleinkinder und Tiere, sie ernteten Beeren und Kräuter, sie spähten hinauf zu den großen weißen Vögeln, und einige wachten über alle anderen.
    Ihr Vater zum Beispiel und ihre Meisterin.
    Ihr Vater Tondobar stand auf einem großen Stein, summte ein Lied und beobachtete abwechselnd das Vogelpaar und die Lichtung. Das musste er tun, beobachten, er war der Erste Wächter des Tores.
    Neben ihm auf dem Stein saß eine zierliche Frau, die ein weites weißes Gewand trug und ihr schlohweißes Haar mit einem roten Lederband aus der Stirn gebunden hatte. Ihre bleiche, durchscheinende Haut war wie ein von tausend feinen Linien zerfurchtes Pergament. Grittana, die Meisterin.
    Kaum sechs Winter hatte Katanja gesehen, und sie glaubte noch, Grittana wäre schon immer da gewesen - das glaubte sie auch von der Bergstadt, vom Wiesenhang und vom Wald -, und sie würde für immer da bleiben. Katanja liebte Grittana sehr.
    Beim großen Stein angekommen, legte sie ihren schwarzen Lockenkopf in den Nacken und blinzelte zu ihrem Vater hinauf. Immer wenn er unruhig war oder sehr aufmerksam, summte er eine Melodie. »Da sucht jemand einen Schatz!« Ihr Mund war
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