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Die Tochter Der Goldzeit

Die Tochter Der Goldzeit

Titel: Die Tochter Der Goldzeit
Autoren: Jo Zybell
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Fall brachte. Schwer atmend blieb sie liegen, wollte ihren Körper der Kälte überlassen, wollte vergessen, dass sie gelebt hatte.
    Weiter! War es die Stimme der Meisterin, die sie zu hören glaubte? Weiter, Tochter der Goldzeit, wenn du leben willst! Sie bezwang ihre Erschöpfung, ihren Schmerz, stemmte sich noch einmal hoch aus Schnee und Unterholz.
    Von Stamm zu Stamm wankte sie durch den Winterwald, immer weiter - bis etwas durch die Luft schwirrte. Sie blieb stehen, sah einen Schatten auf sich zuwirbeln, spürte, wie etwas ihr Haar berührte und auf ihre Schultern fiel - sie warf die Arme hoch und griff in die Maschen eines Jagdnetzes. Es straffte sich und riss sie zurück ins gefrorene Unterholz.
    Ganz steif lag sie da und blickte in den Himmel. War es denn vorbei? Ihr Atem flog, sie lauschte: Schritte näherten sich, jemand keuchte, ein Mann.
    Ja, es war vorbei.
    Katanja schloss die Augen. Lichter, Umrisse und Farben glitten durch ihr Hirn, gewannen Gestalt. Sie sah sich selbst als junges Mädchen neben der Meisterin am Bug eines Schiffes stehen. Ich werde gehen, hörte sie sich sagen. Sie sah sich die breite Treppe zum Tor der Bergstadt hinaufsteigen, sah, wie sie die geliebten Menschen aus Altbergen umarmte, wie sie zum Fluss hinunter ritt und nicht ein einziges Mal zurückblickte. Schneller stürmten die Bilder jetzt auf sie ein, rauschten an ihr vorbei wie Treibgut auf einem reißenden Strom: Bilder von lichten Orten der Liebe und von düsteren Gemäuern der Gewalt; Bilder von vertrauten Gefährten und von gefürchteten Feinden; Bilder all jener, die zurückgeblieben, und derer, die gestorben waren.
    Und nun würde sie ihnen folgen, würde selbst über die Schwelle ins Nichts treten.
    Nun war es vorbei.
    Katanja gab auf. Der Kampf war verloren, ihre lange Reise vergeblich gewesen. Sie öffnete die Augen. Über ihr funkelte der erste Stern im Abendhimmel. Vögel zogen vorüber - große weiße Vögel. Sie flogen dem letzten Abendrot entgegen. Ohne Eile bewegten sie die weiten Schwingen, und es schien, als würde weißes Sternenlicht von ihnen ausgehen.
    Katanja achtete nicht mehr auf die nahen Schritte, nicht auf ihren wilden Herzschlag, nicht auf die fluchende Männerstimme, nicht einmal auf die Umrisse des Hünen, die zwischen den vereisten Stämmen auftauchten - ein Zauber ging vom Anblick dieser Vögel aus, ein Trost wie aus einer anderen Welt.
    Und hatte nicht alles so begonnen? Mit zwei großen weißen Vögeln? Bilder aus noch ferneren Tagen stiegen in ihr hoch. Hatte sie damals nicht den ersten Schritt getan auf dem langen Weg hierher zu den Hügeln vor dem Gebirge der Ostwildwelt? Die weißen Vögel stiegen in den Winterhimmel hinauf. Und Katanja von Altbergen erinnerte sich an jenen fernen Tag ihrer Kindheit, als alles begann.

I .
D AS B UCH VOM A NFANG
    469 - 486 nach der Götternacht

Dies sind die Worte Dashirins, die er richtete an seinen Erzdiener Alphatar im 119. Winter nach der Götternacht.
    »Höre, was ich dir sage, Alphatar«, sprach Dashirin, »du bist mein treuster Diener, mein ältestes Werkzeug, du bist mein Arm, mein Fuß und mein Mund. Höre meinen Spruch - bewahre ihn, präge ihn in harten Kristall, schreibe ihn auf und sieh zu, dass er zu den Ohren der Unmündigen gelangt!«
    »Hier bin ich, Höchster«, sprach ich, Alphatar. »Rede, und ich höre. Befiehl, und ich gehorche.«
    Und Dashirin sprach, und ich hörte.
    »Götternacht nennen sie die Tage und Nächte, die ihre Welt endgültig und unwiderruflich verwüsteten«, sprach Dashirin. »Und wahrhaftig -die Unmündigen tun recht, jene Tage so zu nennen, denn seither ist keiner mehr da, der sich kümmert, der erschafft, der herrscht, der bestraft, zu dem man rufen könnte.
    GÖTTERNACHT!
    Wahrhaftig, es ist Nacht geworden! Wahrhaftig, sie sind verlassen und verloren! Und haben jene Tage und Nächte meine Welt nicht für alle Ewigkeit gezeichnet und entstellt? Götternacht! Schau doch, Alphatar, mein treuer Diener, schau doch auf meine Küsten und Städte und Länder -erkennst du sie denn wieder ? «
    Und Dashirin ließ mich schauen, und ich sah die überschwemmten Küsten, die zerstörten Städte und die entvölkerten Länder. Und ich sah und sprach: »Nein, Höchster, ich erkenne sie nicht wieder, deine Welt...«
    Aus dem Buch Spruch Dashirins an Alphatar, Kapitel 7

Kapitel 1
    Das Flötenspiel am Waldrand verstummte. Katanja kniete im Gras neben dem Lamm und hob den Blick, als sie es merkte. Der Lammbock saugte so gierig an
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