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Die Titanic und Herr Berg

Die Titanic und Herr Berg

Titel: Die Titanic und Herr Berg
Autoren: Kirsten Fuchs
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Zahnputzbecher. Es ist vier Stunden später, noch nicht knapp. Dann hat ein kleiner Hund mit einem kleinen Ball gespielt, ein schöner Moment, den ich zufällig gesehen habe, weil ich die Pflanzen auf dem Fensterbrett gießen musste, musste. Der kleine Hund sprang auf den Ball zu und stoppte davor, knapp. Das Frauchen kuckte nicht hin, weil sie mit einer anderen Frau redete, die ihr Fahrrad mit einem Zahlenschloss an das Gitter anschloss, das um die Fahrradständer gebaut wurde, 3536, eine dunkle, weibliche Zahl. Niemand schließt sein Fahrrad in diesem Käfig ab, alle schließen ihre Räder draußen an. Der Käfig steht da, um ein Stück Hof abzusperren und kann sein, dass manchmal ein Eichhörnchen in die Gitter flüchtet, wenn ein Hund spielen will und sein Frauchen nicht den Ball wirft. Die beiden Frauen redeten lange miteinander. Jetzt weiß ich wenigstens, mit wessen Fahrrad ich manchmal rumfahre, mit dem Fahrrad der Frau, die die Frau mit dem kleinen Hund kennt. Der kleine Hund bellte, er stellte sich über den Ball und pullerte drauf, denn das ist sein Ball. Ich will Peter anpullern. Das Frauchen holte einen Lappen aus ihrer Tasche und eine Tüte. Sie schimpfte nicht, nein, sie nimmt einfach immer eine Tüte mit und einen Lappen, ja. Sie erzieht nicht, sie nimmt nur hin und mit, einen Lappen und eine Tüte. So bin ich, wie der kleine Hund, der Ball, die Tüte und der Lappen. Dann war es fünf Stunden später, dann sechs, weil ich auch was essen muss, weil ich sonst nichts esse, wenn ich nichts esse. Ich putze mir immer vor dem Nachmittagsschlaf die Zähne. Dazu nehme ich die Pillenpackung aus dem Zahnputzbecher, und als ich wieder aufwache, ist es später, zu spät. Ich werde Kinder wie Ämter bekommen. Sie wollen Geld und fragen nach ihren Großeltern. Und weil ich darüber nachdenke, wie ich meine Pille vergesse, vergesse ich, worüber ich nachdenke. Ich gehe zur U-Bahn. Vorgestern habe ich die letzte Pille genommen und müsste noch vier nehmen, obwohl alle alle waren, weg. Das ist, weil Zeit vergeht und dann habe ich Pillen übrig und dann habe ich irgendwann fast einen Monat übrig, aber nur fast. Eine Pille gegen Ämter würde ich nie vergessen, nie. Ich mache das nicht, um Geld zu sparen.
    Ich bin fast am U-Bahnhof und muss an der Ampel warten. Ein Junge neben mir steigt nicht von seinem Fahrrad ab. Er hüpft, bis wir Grün haben, auf seinem Vorderrad herum. Er schafft es keinen Fuß auf den Boden zu bekommen. Ich stehe neben ihm und falle auch nicht um. Dann ist es Grün, und obwohl es nur eine Farbe ist und ein Männchen, gehen alle los, über die Straße, die ganz gerade durch die Stadt führt. Das Leben besteht aus sehr vielen unterschiedlichen Dingen. Signale und Regeln. Wenn ich zwei Tage nicht meine Pille nehme, bekomme ich meine Regel. Heute muss ich unbedingt die Pille haben, kaufen und vorher zum Arzt, so rum.
    Im Durchgang zum U-Bahnhof hat jemand mit Kreide Nachrichten auf den Boden geschrieben, Tanja, bitte melde dich. Ich höre, dass gleich ein Zug einfährt und renne. Ich renne über die bunte Kreide: vegetarisch ernähren, Buddha, Frieden. Katrin ist Vegetarierin oder war sie Vegetarierin, ist sie oder war sie? Ich renne die Treppenstufen herunter, vorbei an den Menschen, die aus meinem Zug ausgestiegen sind und als sie noch im Zug drin waren, war es ihr Zug. Weil ich nicht weiß, ob ich den Zug noch bekommen werde, ist es noch nicht mein Zug. Ich bin auf dem Bahnsteig. Ich könnte reinspringen, aber ich muss vorne raus und rein. Ich renne bis das Signal zum Türenschließen kommt. Ich springe in den ersten Wagen und halte mir mit den Händen die Tür vom Leib. Ich habe den Eindruck, dass ich mich sehen kann, wie ich mich durch die schließende Tür zwänge, damit sie meinen Hintern nicht abschneidet, knapp. Ich habe die Augen aufgerissen. Ich setze mich auf einen Klappsitz, neben der Tür und atme schnell. Ich bleibe nicht lange auf dem Klappsitz sitzen, kurz. Ich stehe auf und sage: «Guten Tag! Mein Name ist Ina. Ich bin vierzehn Jahre alt und lebe auf der Straße. Meine Eltern haben mich verstoßen. Ich bin schwanger, drogenabhängig und das Sozialamt zahlt mir kein Geld, weil meine Eltern für mich zahlen sollen. Die einzige Möglichkeit Geld zu verdienen, ohne dass ich auf den Strich gehe oder klaue, ist betteln.»
    Ich gehe durch die Reihen und niemand schaut mich an, niemand. Es gibt mir auch niemand Geld. Früher haben mich die älteren Männer angeglotzt und haben mir nichts
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