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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman
Autoren: Aufbau
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verschlägt es beinahe den Atem. Die einzigen Ohrringe, die sie bisher kennt, sind große, matte Kugeln, die an Clips hängen: schwere Perlen oder glasig glänzende, braun oder grün marmorierte Steine. So etwas wie diese winzigen Diamanten hat sie noch nie gesehen. Und sie sind
in
ihren Ohren!
    Ninas Mutter schaut weg, als die Frau an ihnen vorbeiläuft, doch Vera fragt: »Wer ist das?«
    »Eine Amerikanerin vermutlich«, antwortet Mutter und streckt eine Hand nach Nina aus, um ihr zu verstehen zu geben, dass es Zeit wird weiterzugehen. Doch Mutters makelloses ovales Gesicht und ihre schlanke Taille müssen die Portiers beeindruckt haben – vielleicht ist ihnen aber auch nur langweilig, und sie wollen angeben. Mit einem Wink geben sie Nina und Vera zu verstehen, dass sie eine Runde mit der Tür drehen dürfen.
    Vollkommene Stille umschließt sie, als die Männer sie feierlich im Kreis geleiten. Nina erhascht einen Blick auf die riesige Hotellobby, den glänzenden Fußboden, den dicken Teppichläufer, einen gigantischen Spiegel mit einem schweren Goldrahmen und eine schier unendlich hohe Decke, von der funkelndes Licht nach unten fällt. Zum ersten Mal in ihrem Leben sieht Nina derartige Dinge, blickt in eine vollkommen andere Welt – doch die Tür dreht sich langsam weiter, und schon hat Nina den Marmorboden, den dicken Teppich, den goldenen Spiegel und Kronleuchter hinter sich gelassen. Dieses funkelnde Lichtermeer – und die Diamanten in den Ohrläppchen dieser Amerikanerin, so winzig klein und strahlend wie Sterne.
    Wieder draußen angekommen, fragt Nina: »Hast du die Ohren von der Dame gesehen?«
    Mutter schenkt ihr einen Blick, der sie daran erinnert, sich bei den beiden Portiers zu bedanken.
    »Vielen Dank.« Nina und Vera machen einen Knicks, so, wie sie es beim Vortanzen gelernt haben, einen Fuß hinter den anderen und den Rock seitlich anheben. Dann wenden sie sich von der faszinierenden Tür ab, dem Eingang zu einer anderen Welt, und erst in diesem Moment wird Nina schlagartig und unmissverständlich bewusst – deutlichernoch als in der Bolschoi-Schule –, dass etwas Bedeutsames geschehen ist.
    Bei ihrer Rückkehr schaut die alte Frau, die das Haus saubermacht, schnell weg. Nach unten gezogene Mundwinkel. Lauernder Blick beim Fegen. Sie bewegt sich in Richtung der einzigen beiden anderen Personen, die noch im Hof sind, ein junges Paar, das in der gleichen Wohnung lebt wie Nina mit ihrer Mutter und Großmutter.
    Mutter sagt, dass sie hier bleiben und spielen sollen, sie würde Ninas und Veras Großmütter runterschicken, um sie zu holen. Doch Nina lauscht der alten Frau. Sie versteht den Namen von Veras Eltern und dann: »Mit denen hat schon immer was nicht gestimmt.«
    Nina hat das schon öfter gehört – nicht über Veras Eltern, sondern über andere Leute im Haus, die nun weg waren. Flüsternde Stimmen im Hof,
mit denen stimmt was nicht …
    Vera dreht sich um und läuft auf die andere Seite des Hofs, wo ihre Großmutter aufgetaucht ist.
    Auch Ninas Großmutter ist erschienen, ihr Kopftuch locker unter dem Kinn zusammengeknotet. »Komm her, Nina!« Doch Nina belauscht weiter die Frau. »Was haben sie denn gemacht?«, fragt das junge Pärchen gerade, als die Hausmeisterin einen Eimer Schmutzwasser vor dem Eingang ausschüttet. Auf der anderen Seite des Hofs nimmt Veras Großmutter Vera mit sich hinein, ohne dass sie sich verabschieden darf.
    »Ninotschka! Komm jetzt!« Die Stimme der Großmutter, die sonst immer warm und ein wenig verdrießlich ist, klingt plötzlich schrill. Die alte Hausmeisterin sagt noch einmal: »Ich habe immer schon gewusst, dass mit denen was nicht stimmt.« Nina blickt nach oben, vorbei an den schiefen kleinen Balkonen, hinauf zu dem Fenster des Zimmers, in dem Veras Familie wohnt. Eine kräftige Brise lässt die Prunkwinde erzittern. Nina wirbelt herum, rennt geradewegs in die Arme ihrer Großmutter und drückt sich ihr an die Brust, nach ihrer Wärme suchend.
     
    Draußen wurde es bereits dunkel, als das Mädchen von Beller sich verabschiedete. Im Salon war es dämmrig. Nina fuhr in ihrem Rollstuhl umher und zog an den Strippen mehrerer Lampen, deren schwachessafrangelbes Licht nur wenig mehr beleuchtete als den jeweiligen Lampenfuß. Statt erleichtert zu sein, dass sie die Sache angegangen war, überfiel sie wieder diese Unruhe, dieses Unbehagen, das sie nun schon seit vierzehn Tagen verspürte.
    Sie lenkte ihren Rollstuhl zum Schreibtisch. Mit dem kleinen Schlüssel,
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