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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman
Autoren: Aufbau
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dass der Campus inzwischen ganz offiziell »rauchfrei« war. Um halb neun erschienen dann Carla und ihr Assistent Dave, um sämtliche Kopierer, Drucker und alles, was noch so brummte, in Gang zu setzen.
    Grigori griff nach dem Feuerzeug, das in seiner großen Hand verschwindend klein aussah. Anfangs hatte er schlicht etwas zum Festhalten gebraucht, etwas, das ihn während Christines Erkrankung beruhigte. Inzwischen war es eine seiner wenigen Freuden. Und dennoch hatte diese Angewohnheit noch nicht bei ihm zu Hause Einzug gehalten; zu deutlich hatte er vor Augen, wie Christine darauf reagiert, was sie davon gehalten hätte. Außerdem wollte er sowieso demnächst damit aufhören; immerhin waren inzwischen ganze zwei Jahre vergangen. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und genoss den ersten, beruhigenden Zug. Er trug einen tadellosen, wenn auch etwas zerknitterten, maßgeschneiderten Anzug, den er sich vor fünfundzwanzig Jahren, also in seinem allerersten Semester als Dozent hier, gekauft hatte. Damals hatte er außerdem versucht, sich einen Bart stehen zu lassen und Pfeife zu rauchen – allesamt Versuche, um wenigstens
ein
Jahr älter auszusehen, als er tatsächlich war. Und selbst heute, mit fünfzig, hatte er nur wenig Falten im Gesicht, und sein dichtes Haar, das scheinbar geradezu dazu einlud, es zu verwuscheln, war nach wie vor dunkel und voll. Groß und gut in Form, hatte er sich etwas von seiner jugendlichen Schlaksigkeit bewahrt. Gerade gestern erst war er von einem pickelgesichtigen Studenten für die Universitätszeitung interviewt worden, der ihn mit ernster Miene gefragt hatte: »Wie fühlt es sich an, Mitglied des Quarter Century Club zu sein?« Grigori hatte zu seinem fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläum einen schweren kastanienbraunen Kugelschreiber sowie eine handgeschriebene Dankeskarte vom Dekan erhalten; dem Studenten mit dem Stenoblock antwortete er mit einem Funkeln in den Augen: »Grauenhaft.«
    Er sprach oft in diesem Ton mit seinen Studenten (trocken, mit leichtem, rätselhaftem Akzent und unbewegter Miene) – und sieschienen es zu mögen, sein ausdruckloses Gesicht, seine gespielt muffeligen Witze, ja, sie schienen sogar Grigori selbst zu mögen. Und er mochte seine Studenten, oder hegte zumindestens keine Abneigung gegen sie, versuchte, sich von ihrem mitunter hanebüchenen Unwissen nicht beirren zu lassen, wenn sie mit ihren Red-Sox-Kappen und Vliesjacken wie die Mitglieder einer gut situierten Straßengang vor ihm saßen. In den Sommermonaten trugen sie Flip-Flops, die sie während der Kurse von sich schleuderten, als fläzten sie auf einem gigantischen Strandtuch. Für Grigori war dies nur eines von vielen Zeichen, dass die Welt ihrem Untergang entgegensteuerte. Er selbst trug derweil weiterhin gute Anzüge, weil er nach wie vor der Meinung war, dass er sich seinen Lebensunterhalt mit einer ehrenwerten Tätigkeit verdiente – und weil er sich bis heute nicht von dieser Angst hatte befreien können, die ihn erstmals als junger Dozent beim Studieren in der Abgeschiedenheit seiner Ein-Zimmer-Mietwohnung befallen hatte: dass er eines Tages irrtümlicherweise in Hausschuhen zum Unterricht aufkreuzen könnte.
    Er sog an seiner Zigarette und faltete die aktuelle Ausgabe des »Globe« auseinander. Der übliche deprimierende Kram: Der Präsident war fest entschlossen, seinen zweiten Krieg in zwei Jahren anzuzetteln. Im Feuilleton jedoch stolperte er über eine Überschrift, die ihn zusammenzucken ließ: »Ballerina Rewskaja versteigert Schmuck.«
    Grigori stieß ein leises »Was?« aus. Einen Moment lang wurde ihm flau im Magen, dann sackte er in sich zusammen.
    Obwohl bereits ein ganzer Monat vergangen war, hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben – nicht ganz, nicht bis eben. Er hatte gehofft, oder zu hoffen versucht, dass eine Annäherung nicht ausgeschlossen war.
    Und nun das.
    Doch was hatte er denn anderes erwartet? Er war der ganzen Sache, um ehrlich zu sein, bewusst aus dem Weg gegangen. Seit zwei Jahren spukte ihm der Gedanke im Kopf herum. Doch er war wie gelähmt gewesen vor Trauer, und erst als sie nachzulassen begann, hatte er sich vorstellen können, es ein weiteres Mal zu versuchen. Aber es hatte nicht geklappt. Diese Distanz würde immer bleiben. Es würde nie zu einer Annäherung kommen.
    Er versuchte, den Artikel zu lesen, doch er nahm den Inhalt der Sätze gar nicht wahr. Sein Herz trommelte, genau wie das letzte Mal, als er Nina Rewskaja gesehen hatte, vor gut zehn
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