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Die Sturmfluten des Frühlings

Die Sturmfluten des Frühlings

Titel: Die Sturmfluten des Frühlings
Autoren: Ernest Hemingway
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Chicago zu kommen. Es gab andere Orte. Was tat es schon, wenn dieser Bursche, der Kritiker Henry Mencken, Chicago die literarische Hauptstadt von Amerika genannt hatte? Da gab es zum Beispiel Grand Rapids. Sobald er erst einmal in Grand Rapids war, konnte er in der Möbelbranche anfangen. Auf die Art und Weise waren Vermögen verdient worden. Möbel aus Grand Rapids waren berühmt, wo immer junge Liebespaare abends miteinander gingen und Pläne für ihr künftiges Heim schmiedeten. Er erinnerte sich an eine Reklame, die er als kleiner Junge in Chicago gesehen hatte. Seine Mutter hatte sie ihm gezeigt, als sie barfüßig zusammen dort, wo jetzt wahrscheinlich die Loop ist, von Tür zu Tür gingen und bettelten. Seine Mutter war entzückt von dem hellen Aufflammen der elektrischen Lichtreklame.
    «Es ist ganz so wie San Miniato in meinem heimatlichen Florenz», erzählte sie Scripps. «Sieh sie dir an, mein Sohn», sagte sie, «denn eines Tages wird deine Musik dort von dem Florentiner Symphonieorchester gespielt werden.»
    Scripps hatte die Lichtreklame oft stundenlang betrachtet, während seine Mutter, in einen alten Schal gehüllt, schlief, wo jetzt wahrscheinlich das Hotel Blackstone steht.
    Die Reklame hatte großen Eindruck auf ihn gemacht. Es hieß da:
    Hartman baut Dir ein warmes Nest!

    Es flammte in vielen verschiedenen Farben. Zuerst in reinem, blendendem Weiß. Das hatte Scripps am allerliebsten. Dann flammte es in einem wunderbaren Grün auf. Dann flammte es rot auf. Eines Nachts, als er zusammengekauert, an den warmen Körper seiner Mutter geschmiegt, dalag und das Aufflammen der Reklame beobachtete, tauchte ein Polizist auf. «Sie müssen weitergehen», sagte er.
    O ja, in der Möbelbranche ließ sich massig viel Geld verdienen, wenn man es richtig anzustellen wußte. Er, Scripps, kannte alle Kniffe bei dem Spiel. In Gedanken stand sein Entschluß fest. Er würde in Grand Rapids bleiben. Der kleine Vogel flatterte fetzt vergnügt.
    «Ach, was werd ich dir für einen wunderschönen vergoldeten Käfig basteln, mein Schatz», sagte Scripps frohlockend. Der kleine Vogel pickte vertrauensvoll an ihm herum. Scripps schritt vorwärts durch den Sturm. Der Schnee begann über die Gleise zu treiben. Vom Wind getragen drang an Scripps’ Ohren der Klang eines weit entfernten indianischen Kriegsrufs.

4
    Wo war Scripps jetzt? Wie er so in der Nacht durch den Sturm schritt, verwirrte sich ihm alles. Nach der entsetzlichen Nacht, in der er gemerkt hatte, daß sein Heim kein Heim mehr war, hatte er sich nach Chicago aufgemacht. Warum war Lucy fortgegangen? Was war aus Läuschen geworden? Er, Scripps, wußte es nicht. Nicht daß er sich etwas daraus machte. Das lag alles hinter ihm. Das war jetzt vorbei. Er stand knietief im Schnee vor einer Eisenbahnstation. An der Eisenbahnstation stand in Riesenlettern

    PETOSKEY

    Auf dem Bahnsteig lag ein Haufen Wild, das von den Jägern der oberen Halbinsel von Michigan heruntergeschafft worden war, eins auf das andere getürmt, tot und steif und halb unterm Schnee begraben. Scripps las das Schild noch einmal. Konnte dies Petoskey sein?
    Ein Mann war drinnen im Bahnhofsgebäude, hämmerte etwas hinter einem vergitterten Schalterfenster. Er blickte hinaus auf Scripps. War das vielleicht ein Telegrafist? Irgend etwas sagte Scripps, daß es einer war.
    Er trat aus dem Schneetreiben und näherte sich dem Fenster. Hinter dem Fenster arbeitete der Mann geschäftig an seinem Telegrafenapparat.
    «Sind Sie ein Telegrafist?» fragte Scripps.
    «Ja, Sir», sagte der Mann. «Ich bin ein Telegrafist.»
    «Wie wunderbar.»
    Der Telegrafist beäugte ihn mißtrauisch. Schließlich, was ging ihn der Mann da an?
    «Ist es schwierig, ein Telegrafist zu sein?» fragte Scripps. Er wollte den Mann ohne Umschweife fragen, ob dies Petoskey sei. Er kannte jedoch diesen großen nördlichen Teil Amerikas nicht und wollte gern höflich sein.
    Der Telegrafist sah ihn neugierig an.
    «Sagen Sie mal», fragte er, «sind Sie ein Schwuler?»
    «Nein», sagte Scripps. «Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, ein Schwuler.»
    «Na», sagte der Telegrafist. «Wozu tragen Sie denn einen Vogel mit sich herum?»
    «Vogel?» fragte Scripps. «Was für einen Vogel?»
    «Der Vogel da, der aus Ihrem Hemd rausguckt.» Scripps war verlegen. Was war das für eine Type, dieser Telegrafist? Was für eine Sorte von Menschen wurden überhaupt Telegrafisten? Waren sie wie Komponisten? Waren sie wie Künstler? Waren sie wie
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