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Die Sturmfluten des Frühlings

Die Sturmfluten des Frühlings

Titel: Die Sturmfluten des Frühlings
Autoren: Ernest Hemingway
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nach meiner Mutter. Es kam keine Antwort, und ich ging ins Nebenzimmer, um Mama aufzuwecken. An Stelle von Mama lag ein französischer General im Bett.»
    «Mon Dieu!» sagte Scripps.
    «Ich hatte furchtbare Angst», fuhr die Kellnerin fort, «und klingelte nach dem Direktor. Der Portier kam herauf, und ich verlangte Auskunft über den Verbleib meiner Mutter.
    ‹Aber, Mademoiselle›, setzte mir der Portier auseinander, ‹wir wissen nichts von Ihrer Mutter. Sie sind mit General Sowieso hierhergekommen› – ich kann mich nicht an den Namen des Generals erinnern.»
    «Nennen Sie ihn General Joffre», schlug Scripps vor.
    «Der Name war so ähnlich», sagte die Kellnerin. «Ich hatte entsetzliche Angst und ließ die Polizei holen und verlangte das Gästebuch zu sehen. ‹Da werden Sie sehen, daß ich mit meiner Mutter eingetragen bin›, sagte ich. Die Polizei kam, und der Portier brachte das Gästebuch herauf. ‹Sehen Sie, Madame›, sagte er. ‹Sie sind mit dem General registriert, mit dem Sie gestern abend in unser Hotel kamen.›
    Ich war verzweifelt. Schließlich erinnerte ich mich, wo der Laden des Friseurs gewesen war. Die Polizei ließ den Friseur kommen. Ein Polizeiinspektor brachte ihn herein.
    ‹Ich war mit meiner Mutter in Ihrem Geschäft›, sagte ich zu dem Friseur, ‹und meine Mutter hat eine Flasche Riechsalz bei Ihnen gekauft.›
    ‹Ich kann mich genau an Mademoiselle erinnern›, sagte der Friseur. ‹Aber Sie waren nicht mit Ihrer Mutter bei mir. Sie wurden begleitet von einem älteren französischen General. Er kaufte, soweit ich mich erinnere, eine Schnurrbartbinde. Der Einkauf ist auf jeden Fall aus meinen Büchern ersichtlich.›
    Ich war in Verzweiflung. Inzwischen hatte die Polizei den Droschkenkutscher, der uns vom Bahnhof ins Hotel gebracht hatte, aufgetrieben. Er schwor, daß ich nicht mit meiner Mutter zusammen gewesen sei. Sagen Sie, langweilt Sie die Geschichte?»
    «Erzählen Sie weiter», sagte Scripps. «Wenn Sie jemals so händeringend wie ich nach einem Stoff gesucht hätten!»
    «Ja», sagte die Kellnerin. «Das ist die ganze Geschichte. Ich habe meine Mutter niemals wiedergesehen. Ich setzte mich mit der Botschaft in Verbindung, aber sie konnten nichts tun. Sie stellten schließlich fest, daß ich mit meiner Mutter den Kanal überquert hatte, aber darüber hinaus konnten sie nichts tun.» Tränen traten in die Augen der ältlichen Kellnerin. «Ich habe Mama nie wiedergesehen. Niemals wieder. Nicht ein einziges Mal.»
    «Und was war mit dem General?»
    «Er lieh mir schließlich 100 Francs – selbst in jenen Tagen keine große Summe –, und ich fuhr nach Amerika und wurde Kellnerin. Das ist die ganze Geschichte.»
    «Da muß mehr dahinterstecken», sagte Scripps. «Ich wette meinen Kopf, da steckt mehr dahinter.»
    «Wissen Sie, manchmal hab ich auch das Gefühl», sagte die Kellnerin. «Mein Gefühl sagt mir, es muß mehr dahinterstecken. Irgendwo, irgendwie muß es eine Erklärung geben. Ich weiß nicht, wieso mir diese Geschichte heute morgen durch den Kopf ging.»
    «Es ist sicher gut, daß Sie sich die ganze Sache von der Seele geredet haben.»
    «Ja», lächelte die Kellnerin. Die Falten in ihrem Gesicht waren jetzt nicht ganz so tief. «Ja, ich fühl mich jetzt wohler.»
    «Sagen Sie», fragte Scripps die Kellnerin, «gibt es hier in der Stadt Arbeit für mich und meinen Vogel?»
    «Ehrliche Arbeit?» fragte die Kellnerin. «Ich weiß nur von ehrlicher Arbeit.»
    «Ja, ehrliche Arbeit», sagte Scripps.
    «Ich hab gehört, daß in der neuen Pumpenfabrik Arbeiter eingestellt werden», sagte die Kellnerin. Warum sollte er nicht mit seinen Händen arbeiten? Rodin hatte es getan. Cezanne war ein Schlächter gewesen. Renoir ein Tischler. Picasso hatte als Junge in einer Zigarettenfabrik gearbeitet. Gilbert Stuart, der die berühmten Porträts von Washington malte, die in unserem ganzen geliebten Amerika reproduziert werden und in jedem Klassenzimmer hängen – Gilbert Stuart war ein Grobschmied gewesen. Und dann der Emerson. Emerson war ein Mörtelträger gewesen. James Russell Lowell war, wie er gehört hatte, in seiner Jugend ein Telegrafist gewesen. Wie der Kerl da unten im Bahnhof. Vielleicht schrieb dieser Telegrafist im Bahnhof gerade jetzt sogar an seiner Thanatopsis oder seinem Gedicht An ein Wasserhuhn} Warum sollte er, Scripps O’Neil, nicht in einer Pumpenfabrik arbeiten?
    «Sie kommen doch wieder?» fragte die Kellnerin.
    «Wenn ich darf», sagte
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