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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden
Autoren: Felicitas Mayall
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Ziehen irgendwo in seinem Körper. Diesmal eher in der Magengegend, vielleicht auch zwischen den Rippen. Er trank einen Schluck kalten Kaffee. Ihm grauste davor, Domenica anzurufen.
    Als Laura aus dem Badezimmer kam, wich er ihrem Blick aus. Er wusste, dass sie ihn ansah und auf ein Wort von ihm wartete. Er konnte nichts sagen, fühlte sich unfähig, feige. Ihm kam es vor, als zählte er sich selbst aus: neun, acht, sieben, sechs, fünf … Laura war ins Schlafzimmer gegangen und hatte leise die Tür hinter sich geschlossen. Er wusste nicht, ob das ihre Art war, ihm Raum zu geben, oder ob sie damit ihre Enttäuschung über sein Schweigen ausdrücken wollte. Er konnte zu ihr gehen und sie fragen. Aber er wollte sie gar nicht fragen. Er wollte nur das Gespräch mit Domenica hinter sich bringen.
     
    Laura öffnete die Türflügel des Schlafzimmers, setzte sich auf die Brüstung des kleinen Balkons und ließ ihre Beine baumeln. Zwei Uhr nachmittags, die Sonne war angenehm warm. Zwei einsame Möwen flogen von links nach rechts, die Insel Montecristo hatte sich in Dunst gehüllt und war verschwunden.
    Augenblicke der Ruhe, dachte sie. Ich hoffe, dass Angelos Gespräch mit seinem Vater nicht zu heftig war. Sie überlegte, wie es wäre, wenn sie ihrem geliebten Vater unangenehme Fragen über seine Vergangenheit stellen müsste, und hoffte, dass es nie dazu kommen möge.
    Wieder zwei Möwen. Diesmal von rechts nach links. Ferruccio lebte seit beinahe zwanzig Jahren hier am Meer, ständig umgeben vom Duft der Macchia, den Schirmpinien und dem Gesang von Nachtigallen. Offensichtlich allein und zufrieden. Angelo hatte ihr von den Nachtigallen erzählt, die hier im Frühling und Sommer sangen. Die ganze Nacht hindurch. Keine schlechte Alternative zum Straßenlärm in München-Haidhausen. Nachtigallen. Könnte sie sich vorstellen, anders zu leben als bisher? Mit Nachtigallen und der Insel Montecristo? Mit all den Unwägbarkeiten ihrer italienischen Vorfahren? Mit Angelo?
    Wie hatte es George Bernard Shaw ausgedrückt? Fortgeschrittene Leute gehen entzückende Freundschaften ein. Alltägliche heiraten. Oder so ähnlich. Es war gemein. Und gleichzeitig nicht ganz falsch. Man müsste das Kunststück vollbringen, die entzückende Freundschaft so zu erhalten, wie sie war, entzückend. Kunststücke, die bedeuteten, dass man sich nicht voneinander abhängig machte. Was völliger Quatsch war, denn wenn man von einem anderen Menschen entzückt war, dann machte allein das schon abhängig. Sie, Laura, war eindeutig noch immer von Angelo entzückt. Und sie hoffte für ihn, dass er seinen Konflikt mit dem alten Guerrini auf eine Weise lösen konnte, die ihn nicht zu sehr verletzte.
     
    Guerrini musste raus, um dieses Gespräch zu führen. Am besten ganz nach oben, aufs Dach. Oben zu sein verstärkte zumindest die Illusion, eine gewisse Kontrolle über die Entwicklungen des Lebens zu haben. Er wusste, dass es lächerlich war, und fand es trotzdem akzeptabel. Hier oben ging es ihm zumindest ein bisschen besser.
    Er starrte auf den Zettel mit der Nummer, den sie ihm in die Hand gedrückt hatte. Sie würde glauben, dass er vor ihr kapituliert hatte. Endgültig kapituliert. Das war es, was ihm schwerfiel. Obwohl es nur eine scheinbare Kapitulation war. Es war die alte Wunde.
    «Domenica? Hier spricht Guerrini.»
    «Sì.»
    «Du kannst deine Lieferung haben.»
    «Ah.»
    «Wo sollen wir uns treffen?»
    «Ich werde darüber nachdenken.»
    «Mach das.»
    Er wusste nicht, was er noch sagen sollte, und drückte auf den roten Knopf. Eine halbe Stunde lang blieb er auf dem Dach und schaute einfach aufs Meer. Irgendwann fragte er sich, ob Laura nach ihm suchte, doch er hörte nichts.
     
    Domenica rief genau in dem Augenblick zurück, als Guerrini und Laura in der kleinen Küche zusammentrafen, um Kaffee zu machen, und beinahe gleichzeitig zu reden begannen, um beim Summen des Telefons sofort wieder zu verstummen.
    «Pronto.»
    «Guerrini?»
    «Sì.»
    «Ich habe es mir überlegt. Du bringst die Sachen ganz einfach zu mir nach Hause. Warum sollten wir irgendwelche lächerlichen Treffpunkte ausmachen? Unsere Abmachung ist sehr klar. Auf diese Weise hat niemand etwas zu befürchten. Wir haben uns sozusagen gegenseitig in der Hand.»
    «Wann?»
    «Acht Uhr. Ach, was mir noch einfällt … wo ist Orecchio?»
    «Abgehauen.»
    «Welch durchsichtige Lüge.»
    «Wie du meinst.»
    «Wir werden ihn finden, Guerrini.»
    «Möglich.»
    «Acht Uhr.»
    «Acht Uhr,
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