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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
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Meter zurückzulaufen,
die mich von unserm Haus trennten, und brach schluchzend vor der Tür meines Onkels zusammen.
    Mein Vater kam am frühen Abend nach Haus. Ich erzählte ihm, was am Nachmittag passiert war, traute mich aber nicht, ihm die Liebesszene bei meinem Onkel zu schildern. Der Arme war völlig verstört und rannte los. Als er weg war, sagte ich mir, dass ich ihm besser alles hätte erzählen sollen, damit er es nicht von den Männern des Revolutionskomitees erfuhr. Ich ging im Zimmer auf und ab. Als meine Mutter nach Hause kam, sagte sie niedergeschlagen zu mir:
    »Geh und hol mir ein Glas Wasser.«
    Ich brachte es ihr wortlos.
    »Wo ist deine Tante? Ich hoffe, sie ist nicht wieder zu ihrem Liebhaber gegangen«, sagte sie zwischen zwei Schlucken.
    »Ist ihr Glück so unerträglich für dich? Du bist so niederträchtig, dass du dich nicht einmal für sie und deinen Bruder freuen kannst.«
    »Wie ich sehe, hat sie wirklich einen großartigen Einfluss auf dich. Nach all der Schande, die sie über uns gebracht hat, wagst du es noch, sie zu verteidigen.«

    »Aber inwiefern ist ihre Liebe eine Schande? Und was geht dich das überhaupt an?«
    Ich brach wieder in Tränen aus, schluchzte, ich hasste meine Mutter, ich verabscheute sie.
    »Wo ist deine Tante? Ich verlange, dass du mir sofort antwortest.«
    »Du kannst dich beglückwünschen, sie haben sie zum Revolutionskomitee mitgenommen«, antwortete ich.
    »Wer, sie?«
    »Na wer schon? Die Männer vom Revolutionskomitee; sie sind hier aufgekreuzt. Wenn du nicht so geschrien und alle Nachbarn geweckt hättest, wäre das alles nicht passiert.«
    »Und dein Onkel?«
    »Er ist auch dort.«
    Sie warf ihren Tschador über, um zum Revolutionskomitee zu gehen. Ich sagte ihr, dass mein Vater bereits dort sei. Für sie gab es nur eine Schuldige: meine Tante. Doch für mich war alles ihre Schuld.
    Mein Vater kehrte allein zurück.
    »Sie haben sie dabehalten. Der Mullah war nicht zu Hause. Ich werde morgen früh noch einmal hingehen.«

    Er war am Boden zerstört.
    Es war die erste Nacht in meinem Leben, die ich ohne die Stumme an meiner Seite verbrachte.

H eute Morgen, als ich mein Opium nahm, sagte ich zu meinem Wärter: »Wissen sie davon?«
    »Aber nein!«
    »Warum riskierst du das aber dann?«
    Er ging weg. Ich rief ihm hinterher: Du darfst nicht mit mir sprechen, stimmt’s? Aber vielleicht hätte ich das nicht tun sollen.
     
    In den Augen des Mullahs hatte die Stumme Ehebruch begangen; zwar war sie noch nicht offiziell seine Frau, aber er hatte bei meiner Mutter um ihre Hand angehalten, die ihm wiederum das Einverständnis meines Vaters gegeben hatte. Die Stumme war ihm, ohne ihr Wissen, versprochen worden. Gegen die Rache eines Mullahs, der von seiner zukünftigen Frau betrogen worden war, die Rache eines Heuchlers, der in seiner Ehre und seiner frömmelnden Selbstliebe gekränkt war, konnte selbst der allmächtige Gott nichts ausrichten. Die Stumme würde
gesteinigt werden. Ich kann gar nicht beschreiben, in welche Gemütsverfassung uns, also meinen Vater und mich, die Verkündung dieses Urteils stürzte - selbst heute nicht, da ich in diesem Kerker hocke und auf meine Hinrichtung warte, auch nicht nach all dem Grauen, das ich erlebt habe. Es gibt keine Worte, die eine solche Barbarei beschreiben könnten: Die Vorstellung, dass meine stumme Tante bis zu den Schultern eingegraben und eine wilde Horde sie mit Steinen bewerfen würde, um sie zu töten, erfüllte uns mit tiefem Entsetzen, aber auch mit einer Wut, die gereicht hätte, die ganze Stadt in Brand zu stecken. Ich hätte den Mullah ermorden können, ja das ganze Viertel. Von Weinkrämpfen geschüttelt, flehte ich meinen Vater an, etwas zu unternehmen. Mit dreizehn glaubt man noch an die Allmacht seines Vaters. Ich hatte ihn nie weinen sehen, aber seitdem man uns mitgeteilt hatte, dass die Stumme gesteinigt werden sollte, weinte er heiße Tränen. Als mir klar wurde, wie wenig er ausrichten konnte, flehte ich Gott an, er möge ein Erdbeben schicken, Bomben, einen Krieg, der die ganze Stadt, das ganze Land verheeren würde, damit die Steinigung der Stummen nicht stattfände. Ich bin außerstande, in Worte zu fassen, welchen Hass mir meine Mutter, ihre
Dummheit, ihre Unwissenheit und ihre Bosheit einflößten. Wie schaffte es mein Vater nur, sich so zu beherrschen? An seiner Stelle hätte ich sie windelweich geschlagen. Immer wieder beteuerte sie, es sei nicht ihre Schuld und sie sei im Recht gewesen, als
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