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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße
Autoren: Cormac McCarthy
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gerade.
    Soll ich dir eine Geschichte erzählen?
    Nein.
    Warum nicht?
    Der Junge sah ihn an und wandte den Blick ab.
    Warum nicht?
    Diese Geschichten sind nicht wahr.
    Das müssen sie auch nicht sein. Es sind Geschichten.
    Ja. Aber in den Geschichten helfen wir andauernd jemandem, dabei tun wir das in Wirklichkeit gar nicht.
    Warum erzählst du mir nicht eine Geschichte?
    Ich will nicht.
    Okay.
    Ich habe keine Geschichten zu erzählen.
    Du könntest mir eine Geschichte über dich selbst erzäh- len.
    Die Geschichten über mich kennst du schon alle. Du warst dabei.
    Du hast Geschichten in deinem Inneren, von denen ich nichts weiß.
    Du meinst, so was wie Träume?
    Ja. Oder einfach Sachen, über die du nachdenkst.
    Ja, aber Geschichten sollen doch schön sein.
    Nicht unbedingt.
    Du erzählst immer schöne Geschichten.
    Kennst du denn keine schönen?
    Meine haben mehr mit dem wirklichen Leben zu tun.
    Und meine nicht?
    Deine nicht. Nein.
    Der Mann betrachtete ihn. Und das wirkliche Leben ist ziemlich übel?
    Was denkst du denn?
    Tja, ich denke, es gibt uns noch. Es sind viele schlimme Sachen passiert, aber es gibt uns immer noch.
    Ja.
    Du findest das nicht so toll. Es ist okay.
     
    Sie hatten einen Arbeitstisch an die Fenster gezogen und ihre Decken darauf ausgebreitet, und dort lag der Junge auf dem Bauch und blickte auf die Bucht hinaus. Der Mann saß mit ausgestrecktem Bein da. Auf der Decke zwischen ihnen lagen die beiden Schusswaffen und die Schachtel mit den Leuchtkugeln. Nach einer Weile sagte der Mann: Ich finde sie ziemlich gut. Es ist eine ziemlich gute Geschichte. Sie hat etwas zu bedeuten.
    Schon gut, Papa. Ich will bloß ein bisschen meine Ruhe.
    Was ist mit Träumen? Manchmal hast du mir Träume erzählt.
    Ich will über nichts reden.
    Okay.
    Ich habe sowieso keine guten Träume. Sie handeln immer davon, dass etwas Schlimmes passiert. Du hast gesagt, das ist okay, weil gute Träume kein gutes Zeichen sind.
    Vielleicht. Ich weiß es nicht.
    Wenn du aufwachst und hustest, gehst du die Straße ent-lang oder sonstwohin, aber ich kann dich trotzdem husten hören.
    Das tut mir leid.
    Einmal habe ich dich weinen hören.
    Ich weiß.
    Wenn ich nicht weinen soll, dann sollst du es auch nicht.
    Okay.
    Wird dein Bein wieder heil?
    Ja.
    Das sagst du nicht einfach nur so?
    Nein.
    Es sieht nämlich richtig schlimm verletzt aus.
    So schlimm ist es nicht.
    Der Mann hat versucht, uns umzubringen, stimmt̕s?
    Ja.
    Hast du ihn umgebracht?
    Nein.
    Ist das die Wahrheit?
    Ja.
    Okay.
    Ist jetzt wieder alles in Ordnung?
    Ja.
    Ich dachte, du willst nicht reden?
    Will ich auch nicht.
     
    Als sie zwei Tage später aufbrachen, humpelte der Mann hinter dem Wagen her, und der Junge hielt sich dicht an seiner Seite, bis sie die Außenbezirke der Stadt hinter sich gelassen hatten. Die Straße verlief an der flachen grauen Küste entlang, und der Wind hatte Sandverwehungen darauf zurückgelassen. Das erschwerte das Gehen, und stellenweise mussten sie sich mit einem Brett, das sie auf der unteren Ablage des Einkaufswagens mit sich führten, den Weg frei schaufeln. Sie bogen auf den Strand ab, setzten sich in den Windschatten der Dünen und studierten die Karte. Sie hatten den Gasbrenner mitgenommen, erhitzten Wasser und machten, zum Schutz gegen den Wind in ihre Decken eingehüllt, Tee. Ein Stück weit die Küste entlang das verwitterte Holzgerippe eines al-ten Schiffes. Graue, vom Sand abgeschmirgelte Balken, alte, handgedrehte Schrauben. Die schrundigen Eisenbeschläge tiefviolett, in irgendeinem Luppenfeuer in Cádiz oder Bristol geschmolzen, auf einem geschwärzten Amboss geschmiedet und gut genug, um dreihundert Jahre gegen das Meer zu überdauern. Am folgenden Tag kamen sie zwischen den mit Brettern vernagelten Ruinen eines Badeorts hindurch und nahmen die Straße landeinwärts durch einen Kiefernwald, das lange schwarze Asphaltband von Nadelverwehungen bedeckt, der Wind in den dunklen Bäumen.
     
    Mittags, zur Zeit des besten Lichts, saß er auf der Straße, schnitt mit der Schere die Nähte durch, legte die Schere in den Kasten zurück und nahm die Klemme heraus. Dann machte er sich daran, die dünnen schwarzen Fäden unter Gegendruck mit der Daumenkuppe aus der Haut zu ziehen. Der Junge saß ebenfalls auf der Straße und sah zu. Der Mann fasste die Enden der Fäden mit den Backen der Klemme und zog einen nach dem anderen heraus. Kleine Blutpünktchen. Als er fertig war, räumte er die Klemme weg, klebte Gaze auf die Wunde, stand
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