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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße
Autoren: Cormac McCarthy
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auf, zog sich die Hose hoch und reichte dem Jungen den Kasten, damit er ihn verstaute.
    Das hat weh getan, oder?, fragte der Junge.
    Ja, das hat es.
    Bist du richtig tapfer?
    So mittel.
    Was war das Tapferste, das du je getan hast?
    Er spuckte ein blutiges Schleimklümpchen auf die Straße. Dass ich heute Morgen aufgestanden bin, sagte er.
    Wirklich?
    Nein. Hör nicht auf mich. Komm, gehen wir.
    Am Abend der düstere Umriss einer weiteren Küstenstadt, die Ansammlung hoher Gebäude auf unbestimmte Weise schlief. Er vermutete, dass der Armierungsstahl in der Hitze weich und dann wieder fest geworden war, sodass die Gebäude nun nicht mehr senkrecht standen. Das geschmolzene Fensterglas zog sich die Mauern hinab wie Zuckerguss auf einem Kuchen. Sie gingen weiter. Nachts, in der schwarzen, eiskalten Einöde erwachte er nun zuweilen aus zartkolorierten Welten von menschlicher Liebe, Vogelgesang und Sonne.
     
    Er legte die Stirn auf die an der Haltestange des Wagens verschränkten Arme und hustete. Er spuckte blutigen Schleim. Immer öfter musste er nun anhalten und ausruhen. Der Junge sah ihm zu. In einer anderen Welt hätte das Kind schon begonnen, ihn aus seinem Leben zu streichen. Aber der Junge hatte kein sonstiges Leben. Der Mann wusste, dass der Junge nachts wach lag und darauf horchte, ob er noch atmete.
     
     
    Ungezählt und unverzeichnet schleppten sich die Tage dahin. Auf dem Highway in der Ferne lange Schlangen verkohlter und rostender Autos. Die nackten Felgen als geschwärzte Metallringe in einem steifen grauen Brei aus geschmolzenem Gummi sitzend. Die verbrannten Leiber auf Kindergröße geschrumpft und an die bloßliegenden Federn der Sitze gelehnt. Zehntausend Träume in ihren verschmorten Herzen begraben. Sie gingen weiter. Nahmen die tote Welt unter die Füße wie Ratten in einem Rad. Die Nächte totenstill und totschwarz. So kalt. Sie redeten kaum noch. Er hustete unentwegt, und der Junge sah zu, wie er Blut spuckte. Sich dahin-schleppte. Schmutzig, zerlumpt, hoffnungslos. Immer wieder hielt er an und stützte sich auf den Wagen, der Junge ging zunächst weiter, blieb dann ebenfalls stehen und blickte zurück, und dann hob er die tränenden Augen und sah ihn auf der Straße stehen und aus irgendeiner unvorstellbaren Zukunft auf ihn zurückblicken, in der Ödnis schimmernd wie ein Tabernakel.
     
     
    Die Straße durchquerte einen ausgetrockneten Morast, wo Eisrohre wie Formationen in einer Höhle aus dem gefrorenen Matsch ragten. Am Straßenrand die Überreste eines alten Feuers. Dahinter ein langer Betondamm. Ein toter Sumpf. Aus dem grauen Wasser ragend tote Bäume mit Schleppen aus grauen Moosresten. An der Bordschwelle seidige Aschehäufchen. Er stützte sich auf die grobe Betonbrüstung. Vielleicht wäre es in der Zerstörung der Welt endlich möglich zu erkennen, woraus sie bestand. Ozeane, Berge. Das gewichtige Gegenschauspiel von Dingen, die zu bestehen aufhören. Die allumfassende Ödnis, ödematisch und von kalter Profanität. Die Stille.
     
    Seit einiger Zeit stießen sie immer wieder auf Windbrüche toter Kiefern, große, aus der Landschaft gemähte Schwaden der Zerstörung. Über das Terrain verstreut Gebäudetrümmer und, wie Gestricktes ineinanderverwickelt, Kabelstränge von den Masten am Straßenrand. Die Straße war mit Schutt übersät, und es war schwere Arbeit, mit dem Wagen durchzukommen. Schließlich saßen sie einfach am Straßenrand und starrten auf das, was vor ihnen lag. Dächer von Häusern, die Stämme von Bäumen. Ein Boot. Der offene Himmel dahinter, wo in der Ferne die trübe See träge wogte.
    Sie durchwühlten die entlang der Straße verstreuten Trümmer, und er fand schließlich eine Segeltuchtasche, die er sich über die Schulter hängen konnte, und einen kleinen Koffer für den Jungen. Sie verpackten ihre Decken, die Plane und den Rest der Konserven, ließen den Wagen stehen und machten sich mit ihren Rucksäcken, dem Koffer und der Reisetasche auf den Weg. Kraxelten durch die Ruinen. Kamen nur langsam voran. Er musste stehenbleiben und ausruhen. Er saß auf einem Sofa am Straßenrand, die Polster von der Feuchtigkeit aufgequollen. Vornübergebeugt, hustend. Er zog sich den blutbefleckten Mundschutz vom Gesicht, stand auf, spülte ihn im Straßengraben, wrang ihn aus und stand dann einfach auf der Straße. Sein Atem ein weißes Wölkchen. Der Winter war nah. Er drehte sich um und sah den Jungen an. Der mit seinem Koffer wie eine Waise wirkte, die auf den Bus
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