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Die stillen Wasser des Todes - Roman

Die stillen Wasser des Todes - Roman

Titel: Die stillen Wasser des Todes - Roman
Autoren: Deborah Crombie
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verloren«, gab sie zurück. Für Milo, der als Trainer seinen Sarkasmus einsetzte wie einen Rammbock, war es allerdings noch eine relativ harmlose Bemerkung gewesen.
    »Er hat sich Sorgen gemacht, und ich muss sagen, dass ich ihn gut verstehen kann. Du kannst so nicht weitermachen. Nicht«, fügte er hinzu, ehe sie Luft holen konnte, um vehement zu protestieren, »nicht, wenn du eine Chance haben willst, das Halbfinale zu erreichen, geschweige denn, zu gewinnen.«
    »Was?« Sie blickte überrascht auf und stellte fest, dass die Miene, mit der er sie betrachtete, nicht mehr grimmig war, sondern eher nachdenklich.
    »Egal, was die anderen sagen«, fuhr Milo fort, »ich halte es durchaus für möglich, dass du bei der Vorausscheidung gewinnen kannst und vielleicht sogar bei den Spielen. Du warst früher einmal eine der besten Ruderinnen, die ich je gekannt habe. Es wäre nicht das erste Mal, dass einem Ruderer in deinem Alter ein Comeback gelingt. Aber so halbherzig, wie du die Sache bisher angehst, wird das nichts. Immer nur nach Feierabend und am Wochenende rudern und in deinem Cottage Gewichte stemmen und am Ergometer trainieren – o ja, ich weiß Bescheid. Hast du etwa geglaubt, du könntest dir Schweigen erkaufen, indem du das eine oder andere Bier ausgibst, und das in einem so inzestuösen Laden wie diesem?« Er grinste, doch dann wurde er wieder ernst. »Du musst dich entscheiden, Becca. Wenn du das wirklich durchziehen willst, musst du alles andere aufgeben. Es wird das Schwerste sein, was du je getan hast, aber so, wie ich deinen Dickkopf kenne, könntest du es tatsächlich schaffen.«
    Es war das erste Mal, dass irgendjemand sie auch nur ansatzweise in ihrem Vorhaben bestärkte, und aus Milos Mund bedeutete ihr das mehr als von jedem anderen. Sie hatte einen Frosch im Hals, als sie erwiderte: »Ich – ich werde darüber nachdenken.« Dann deutete sie mit einem Nicken auf das Boot, und gemeinsam hoben sie es über ihre Köpfe, manövrierten es durch das schmale Tor des Platzes und setzten es behutsam neben dem Steg aufs Wasser.
    Becca zog ihre Schuhe aus und warf sie neben dem Steg auf die Erde. Dann hob sie ihre Skulls auf und legte sie in einer einzigen fließenden Bewegung quer über die Mitte des Boots, während sie sich auf dem Rollsitz niederließ.
    Das Boot schaukelte bedenklich, als es ihr Gewicht aufnahm. Die Bewegung erinnerte sie – wie jedes Mal – daran, dass sie verkehrt herum auf einem dünnen Carbonfaser-Brett saß, das schmaler war als ihr Oberkörper, nur wenige Zentimeter über dem Wasser, und nur durch ihre Geschicklichkeit und ihre Entschlossenheit verhindern konnte, dass ihr zerbrechliches Fahrzeug von den dunklen Tiefen des Flusses verschlungen wurde.
    Aber die Angst war etwas Positives. Sie machte sie stark und vorsichtig. Becca steckte die Skulls in die Dollen und schloss die Dollenbügel. Während das Steuerbord-Blatt auf dem Steg lag und das Backbord-Blatt flach auf dem Wasser ruhte, steckte sie die Füße in die Turnschuhe, die am Stemmbrett befestigt waren, und schnallte die Klettverschlüsse fest.
    »Ich warte auf dich«, erbot sich Milo, »und helfe dir nachher, das Boot aufzubocken.«
    Becca schüttelte den Kopf. »Ich komme schon zurecht. Ich habe meinen eigenen Schlüssel.« Sie spürte das leichte Gewicht der Kordel, an der er hing, auf ihrer Brust.
    »Aber, Milo …« Sie zögerte. »Danke.«
    »Dann lass ich das Licht an«, sagte er, als sie sich vom Steg abstieß. »Skull- und Dollenbruch!«
    Aber sie glitt bereits davon, ließ ihr Skiff von der Strömung in die Flussmitte treiben, und seine Worte drangen kaum noch zu ihr durch.
    Die Welt schien hinter ihr zurückzubleiben, als sie in ihren Aufwärmrhythmus verfiel, die verspannten Schultern und die steifen Oberschenkel lockerte. Der Wind, der stetig flussabwärts wehte, spielte um ihr Gesicht. Wind und Strömung waren beide auf ihrer Seite, was sich aber ändern würde, sobald sie Temple Island umrundet hatte; von da an würde sie gegen den Wind flussaufwärts rudern müssen.
    Ihre Züge wurden länger und tiefer, während sie die goldenen Lichtbögen der Henley Bridge in der Ferne verschwinden sah. Sie fuhr rückwärts, wie alle Ruderer, und orientierte sich auf dem Fluss mit Hilfe ihres Instinkts. Und es war, als ob sie sich auch in der Zeit rückwärtsbewegte. Einen Augenblick lang war sie tatsächlich die junge Frau, für die eine olympische Goldmedaille greifbar nahe gewesen war. Die junge Frau, die ihre
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