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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman
Autoren: Andreas Brandhorst
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habe. Françoise.«
    »Ich bin Louise. Ich bin immer Louise gewesen, tut mir leid.«
    Der Tod ist ein Dieb, dachte Benjamin. Er stiehlt Erinnerungen, und vielleicht verändert er jene, die er uns lässt.
    »Louise?«
    »Was willst du noch, Ben? Ich hab dir alles erzählt. Das Wichtigste. Der Rest ist Kleinkram.«
    »Wir stehen, Louise. Wir bewegen uns nicht mehr.« Benjamin richtete sich langsam auf, und es wehte ihm kein Fahrtwind ins Gesicht. »Schade, dass uns Hannibal keine Lampe mitgegeben hat.«
    »Ich glaube …« Louise erhob sich ebenfalls und klopfte ihre Taschen ab. »Ja, da sind sie. Streichhölzer. Ich hab sie in dem Hotelzimmer gefunden, in das man mich gesperrt hat. Niemand hat’s gemerkt, obwohl solche Sachen inzwischen recht wertvoll sein dürften.«
    Benjamin hörte ein Ratschen, und das jähe Licht einer Flamme blendete ihn. Er kniff die Augen zusammen …
    Louise schrie.
    Direkt vor ihnen stand eine dunkle Gestalt, die Beine krumm, der Rücken gebeugt, die Arme unterschiedlich lang. Aber inzwischen war das Wesen gewachsen, denn es ragte fast fünf Meter auf, und die tatzenartigen Hände endeten in langen Krallen. Das Gesicht – Benjamins Gesicht – war zu einer Grimasse verzerrt, erfüllt von einem seltsamen Schmerz. Ein Grollen kam aus der Kehle, aber es klang nicht bedrohlich.
    Louise ließ das Streichholz fallen.

    Die Dunkelheit kehrte zurück, und mit ihr kam eine vertraut klingende Stimme.
    »Wie findet ihr meinen kleinen Freund?«

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    »Laurentius?«, fragte Benjamin.
    »Wen hast du hier unten erwartet, mein Junge? Hannibal? Ich beobachte euch schon seit einer ganzen Weile. Interessantes Gespräch, das ihr da geführt habt. Man erfährt so manches, wenn Leute, die sich unbeobachtet wähnen, miteinander sprechen. Oh, ihr könnt im Dunkeln nicht sehen, das habe ich ganz vergessen. Moment.«
    Ein Licht erschien in der Finsternis, aber nicht so plötzlich wie das der Streichholzflamme, sondern sanft und langsam. Die Umrisse des ins Riesenhafte gewachsenen dunklen Wesens zeichneten sich in der zurückweichenden Dunkelheit ab, und neben ihm stand eine kleinere Gestalt, in einen grünen Lodenmantel gehüllt. Laurentius hielt eine Lampe, in der kein Öl brannte: Das Licht kam nicht von einer Flamme, sondern von mehreren glimmenden Punkten, die hinter dem Glas schwebten. Mit der freien Hand klopfte er dem neben ihm aufragenden Geschöpf ans Bein.
    »Ich glaube, ihr kennt euch schon, nicht wahr?«
    Der dunkle Riese knurrte, stützte sich wie ein Gorilla auf die Fingerknöchel und brachte sein Gesicht ganz nahe an Benjamin heran. Der Geruch von Ammoniak wurde so stark, dass diesem der Atem stockte.

    Laurentius lächelte noch immer. »Na, erinnert er dich an etwas, der Geruch?«
    Unmittelbar nach der Gasexplosion im Keller des Instituts, kurz vor seinem Tod … Benjamin entsann sich daran, Ammoniak gerochen zu haben.
    Das dunkle Geschöpf mit der ledrigen Haut grollte, und als Benjamin ihm in die Augen sah – in das Spiegelbild seiner eigenen Augen –, erkannte er tiefen Schmerz darin. Das Wesen streckte eine Klauenhand aus …
    »O nein, kommt nicht infrage«, sagte Laurentius und trat zwischen den dunklen Riesen und Benjamin. »Er möchte in dich zurück, Benjamin. Er möchte dorthin, wo er früher in dir wohnte.«
    »Was?«
    Laurentius drehte sich um und musterte ihn erstaunt. »Weißt du es noch nicht? Ahnst du es nicht einmal?«
    »Was soll ich ahnen, verdammt? Was wird hier gespielt?«
    »Gespielt, Benjamin?« Das Lächeln verschwand von Laurentius’ Lippen. »Hältst du dies alles, auch den Tod, für ein Spiel?«
    »Ben …«
    Benjamin sah Louise an, die bleich und zitternd neben ihm stand. »Mir ist schlecht, Ben«, ächzte sie. »Und ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten.«
    »Oh, die junge Dame hat einen Schock erlitten.« Laurentius klatschte in die Hände. »Wie konnte ich das nur übersehen !« Er öffnete die Klappe seiner Lampe, und einige der Lichtpunkte kamen heraus, stiegen auf und strahlten heller.
    Die Dunkelheit um sie herum wogte wie ein Nebel, als wollte sie sich der Helligkeit widersetzen, doch dann wich
sie zurück. Das Licht breitete sich aus, in einer so immensen Höhle, dass die Decke zu einem schwarzen Himmel wurde und die Wände zum fernen Horizont einer Welt unter der Welt. Benjamin sah in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ein Tunnel erstreckte sich dort, mit einem vorn geöffneten Wagen aus Holz auf glänzenden, völlig rostfreien Schienen. Er
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