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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition)
Autoren: Olen Steinhauer
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Beim Schlendern über den Bahnsteig stieß er gelegentlich mit vorgebeugten Männern zusammen, die sich Zigaretten anzündeten. Sein Blick wanderte hinauf zu einer der seit jüngster Zeit allgegenwärtigen Spinnennetzdecken aus Stahl und Glas. Wie viel hatte das gekostet? Bei all den Bestechungsgeldern und Zwangsräumungen, die mit den teuren Schönheitsoperationen an den Großstädten einhergegangen waren, konnte das niemand so genau sagen. Dann bemerkte er auf der anderen Seite der Halle eine lange, aber ordentliche Warteschlange vor einem provisorischen Rotkreuzschalter, wo man Geld spenden konnte. Tags zuvor hatten die Zeitungen berichtet, dass die Spenden für die Erdbebenopfer sich bereits auf eine Summe von 1,3 Milliarden Yuan beliefen. Zhu strebte hinüber zu dem Schalter und trat nach kurzem Zögern zu einer alten Frau mit nassem Gesicht vorn in der Schlange. Er gab ihr zehn Hundertyuan-Scheine, etwa hundertfünfzig Dollar, um ihren Beitrag aufzustocken. Sie war sprachlos.
    Draußen wurde die strahlende Sonne des späten Nachmittags gedämpft durch eine kühle Brise vom Gelben Meer. Er setzte seine Tasche ab und nahm einen Hamlet mit Filter aus einer Zigarilloschachtel, bevor er sich einer Gruppe junger Leute anschloss, die die Feixian Road überquerten. Auf dem Weg zum Badestrand 6 passierten sie zwei hell erleuchtete, brechend volle Restaurants – Kentucky Fried Chicken und McDonald’s. Die Teenager riefen wild durcheinander und stürmten hinunter zum Wasser. Rauchend blieb er auf dem Gehsteig zurück und beobachtete, wie die mageren Gestalten über den Sand tänzelten und ins Meer tauchten.
    Seine Eltern stammten zwar aus den Bergen, doch die Küstenbewohner waren ihm schon immer sympathisch gewesen. Sie teilten die pragmatische Objektivität ihrer Brüder aus den Bergen. Er schaute den Auswärtigen zu, die im Wasser herumturnten, während die Ortsansässigen alles stoisch über sich ergehen ließen und ihnen von dampfenden Karren gebratene Speisen verkauften.
    Der Bus mit der Nummer 501 war halb leer, und er sicherte sich für die einstündige Reise zwei Sitze im hinteren Teil. Ein ganzes Leben ließ sich mit solchen Verrichtungen füllen.
    Die Sonne stand schon tief im Westen, als er vor einem Hochhaus an einer breiten Straße in Laoshan am Fuß des gleichnamigen Gebirges ankam. Er war einer von fünf Fahrgästen, die ausstiegen: zwei alte Frauen, eine nervöse Schwangere und ein halbwüchsiger Junge in einem Tarn-T-Shirt. Die beiden Alten verließen die Haltestelle zusammen, und der Teenager wurde von seiner Mutter abgeholt. Nur die Schwangere blieb allein zurück. Sie setzte sich auf eine Bank, eine leere Plastiktüte an den dicken Bauch gepresst, und senkte den Blick zu Boden. Vermutlich weinte sie.
    Hinter dem Hochhaus entdeckte er auf einem kleinen Parkplatz, den sich eine Vielfalt von Automarken in unterschiedlich gutem Zustand teilten, den unauffälligen schmutzig weißen Citroën Fukang. Am Steuer rauchte mit geschlossenen Augen ein sechsundfünfzigjähriger Mann.
    »Aufwachen, Zhang Guo«, begrüßte ihn Zhu.
    Zhang Guo fuhr nicht zusammen, dafür war er zu sehr von sich eingenommen. Das war eine seiner wunderbaren Eigenschaften. Stattdessen öffnete er die Augen einen Spalt weit. »Du hast Verspätung.«
    »Nicht viel.«
    »Das Ganze ist lächerlich, weißt du.«
    »Es geht dir also gut, Zhang Guo?«
    »Der Arzt meint, meine Prostata ist kurz vor dem Explodieren.«
    Zhu warf seine Reisetasche durch das offene hintere Fenster und ging zur Beifahrerseite. Die Stoßdämpfer des Wagens ächzten, als er sich niederließ. »Sprich, alles normal bei dir.«
    »Eigentlich sollte ich in Peking bei Chi Shanshan sein, um noch ein paar glückliche Tage mit ihr zu verbringen.«
    »Einen Tag lang wird sie es schon ohne dich und deine liebevolle Betreuung aushalten. Wenn jemand leidet, dann höchstens deine Frau.«
    »Und was ist mit Sung Hui? Ist sie noch genauso schön wie letzten Sommer?«
    »Noch schöner. Sie schläft sehr viel.«
    »Gut für sie, aber nicht für dich.«
    »Vielleicht doch, meiner Prostata geht es glänzend.«
    Zhang Guo schnippte seine Zigarette durchs Fenster und ließ den Wagen an. »Schon erstaunlich, wie jemand, dem noch weniger Zeit bleibt als mir, solche Witze machen kann.«
    Durch einen Sprung in der Windschutzscheibe starrte Zhu auf wucherndes Gras und weitere Hochhäuser.
    »Ich fahre nicht den Berg hinauf«, ließ sich Zhang Guo vernehmen.
    »Es ist ein guter Ort zum
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