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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition)
Autoren: Olen Steinhauer
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Suppe, die er gar nicht wollte, weil sein Magen ganz verkrampft war. Das Sitzen am Schreibtisch, um Tarnidentitäten und Ablenkungsmanöver zu ersinnen und zu überlegen, wann das Büro zum letzten Mal nach Wanzen durchkämmt worden war. Besuche auf Friedhöfen und in Kneipen, Kirchen, leeren Lagerhallen und Parkgaragen, nur um festzustellen, dass die andere Seite nicht erschienen war. All die beim Warten in dunklen Zimmern, auf Flughäfen, auf Bahnhöfen und auf feuchten öffentlichen Plätzen entgangenen Mahlzeiten.
    Und heute die öde eineinhalbstündige Fahrt von Peking nach Nankai auf der G020 , das Abstellen seines zehn Jahre alten Audis und weiter mit dem Taxi zum Bahnhof im baumumsäumten Xiqing. Das Warten auf dem Bahnsteig, bis sich der Zug nach Qingdao in Bewegung setzte, ehe er seinen massigen Körper und die kleine graue Reisetasche in den letzten Waggon wuchtete. Das Lauern an der Tür, während der Bahnhof vorbeizog, um nach Nachzüglern Ausschau zu halten. Und das alles, obwohl dieser Zug in Südpeking gestartet war, also nicht weit vom Ausgangspunkt seiner Reise. Das alles nur, um sich mit jemandem zu treffen, der wie er in Peking lebte und wohnte.
    Die offizielle Version, die sein Assistent unter die Leute bringen sollte, lautete, dass Xin Zhu zu einem Wochenendtrip nach Shanghai aufgebrochen war, um 1262 Kilometer Abstand zu gewinnen und seine schwindenden Optionen zu betrachten. Wenn die Herren in Peking merkten – falls sie es überhaupt merkten –, dass der korpulente Mann, der im Pudong Shangri-La in Shanghai abstieg, nicht Xin Zhu war, war es zu spät.
    Als der Zug seine fünfstündige Reise nach Südosten antrat, bahnte er sich geduldig einen Weg nach vorn. Er war ein auffallend dicker Mann, und wenn er auf andere Fahrgäste stieß, mussten sich diese auf einen Notsitz zwängen, damit er vorbeikam. Zeitungen, auf denen Fotos der Vernichtung durch das Erdbeben in Sichuan prangten, wurden geräuschvoll zusammengefaltet, um ihm Platz zu machen. Gelegentlich, wenn er auf junge Frauen mit Kindern traf, hob er seine Tasche mit einem herzlichen Lächeln über den Kopf, und man quetschte sich aneinander vorbei. Schließlich fand er zwei freie Plätze nebeneinander in der ersten Reihe eines sauberen, beige getäfelten Wagens. Zhu schob die Armlehne dazwischen hoch und ließ sich dankbar nieder, ehe er wieder mit Zeitungsfotos von eingestürzten Häusern und weinenden Menschen konfrontiert wurde.
    Im ganzen Land gab es kein anderes Thema, und er hatte fast Gewissensbisse wegen seines Ausflugs. Vor vier Tagen war Wenchuan im Osten der Provinz Sichuan von einem Erdbeben getroffen worden, dessen Ausläufer noch in der über tausendfünfhundert Kilometer entfernten Hauptstadt zu spüren waren. Aus dem ganzen Land waren Rettungskräfte entsandt worden. Nahezu hunderttausend Soldaten, zweitausend Mediziner und Sanitäter und hundertfünfzig Flugzeuge waren im Einsatz. Offiziell belief sich die Zahl der Toten auf zwanzigtausend, doch nach Schätzungen waren es mindestens fünfzigtausend, was wahrscheinlich immer noch zu niedrig gegriffen war. Was bedeutete im Gegensatz dazu das Schicksal eines einzigen dicken Spions?
    Nichts.
    Während sein keuchender Atem allmählich ruhiger wurde und die dünne Schweißschicht auf seinem pausbackigen Gesicht verdampfte, zogen draußen die aschefarbenen Vororte von Xiqing vorbei. Die Luft hier war besser und würde immer sauberer werden, je mehr sie sich der Küste näherten. Auch er fühlte sich außerhalb der Hauptstadt sauberer. Im Außeneinsatz fühlte er sich immer besser.
    Die freundliche Miene der Schaffnerin in einer makellosen blauen Uniform verdüsterte sich, als er ihr erklärte, dass er bei ihr eine Fahrkarte erwerben wolle. »Sie sind ohne Fahrschein eingestiegen?«
    »Meine Pläne haben sich in letzter Minute geändert. Ich hatte keine Wahl.«
    »Wir haben immer eine Wahl.«
    Er hätte seinen Guoanbu-Ausweis vorzeigen und die Diskussion damit sofort beenden können. Doch er sagte: »Ich hatte die Wahl, entweder einzusteigen oder meine Mutter sterben zu lassen.«
    »Sie stirbt, wenn Sie nicht vor ihr stehen?«
    »Das Krankenhaus in Qingdao hat zu wenig Blutreserven. Sie muss sterben, wenn ich ihr kein Blut spende.«
    Ihren Augen war anzumerken, dass sie ihm nicht glaubte – oder ihm zumindest nicht glauben wollte. Schließlich fragte sie: »Können Sie bitte einen der zwei Sitze frei machen?«
    Zhu breitete die Hände aus, um seinen Körperumfang
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