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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition)
Autoren: Ulrich Tukur
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ursprünglich Reines schlummere in ihm und daß er – Wilhelm – es nun zu erwecken bestimmt war?
    SÉRAPHINE WAR DAS GEGENTEIL dessen, was man als schön und edel bezeichnen würde. Groß, massig, mit grobgeschnittenem, bäuerlichem Gesicht, lief sie in derben Gewändern, abgetragenen Stiefeln, den zerknautschten Strohhut auf dem Kopf, durch die staubigen Straßen von Senlis, drückte ihr mächtiges Hinterteil heraus, redete mit sich selbst, fing unvermittelt an, Psalmen zu singen, und drohte den Kindern, die sie verfolgten und mit Steinen und Dreck bewarfen, mit erhobener Faust.
    Sie war hineingeboren in eine mittelalterlich-bäuerliche Welt, die noch nach zyklischer Zeit funktionierte, hatte als Kind das Vieh ihres Dorfes gehütet und schon früh den Spott und die Herzlosigkeit einer Welt zu spüren bekommen, die mit Vorliebe diejenigen bestraft, die keinen Platz in ihr finden und sprachlos und verwirrt am Rande stehen.
    Zu der Zeit, als Wilhelm Frankreich erreichte, war ihr ein Engel erschienen, der ihr auftrug, mit der Malerei zu beginnen.
    Und das tat sie mit Inbrunst und religiöser Hingabe.
    Gott war überall dort, wo die Menschen nicht hinkamen, in jedem Baum, in jeder Pflanze, er schwebte in den Wolken über der Picardie, rauschte im Bach hinter der Stadt, den sie aufsuchte, um zu baden, und weil an seinem Ufer im Schatten tiefhängender Weiden Kräuter wuchsen, die sie zum Herstellen lebensverlängernder Elixiere und zum Anrühren von Farben benutzte.
    Wenn sie sich in ihre Kammer einschloß, um zu malen, sprach sie mit ihm, entzündete Kerzen und Weihrauch, betete, und die Heilige Jungfrau löste sich aus dem goldenen Rahmen eines über ihrem Bett hängenden Kirchenbildchens und trat neben sie, um ihr zu zeigen, wie man den Pinsel am besten führte, und alles war Lob der Natur, und im üppigen Blattwerk der Bäume, die auf der Leinwand Wurzeln schlugen, wuchsen und gelb, smaragdgrün und rot leuchteten, sangen die Engel und sahen sie aus umwimperten Augen freundlich an.
    WILHELM NAHM SICH IHRER AN, besorgte Farben und Leinwände (die neuen, industriell hergestellten Ölfarben allerdings lehnte sie ab), gab ihr Geld, machte ihre Bilder, die von Mal zu Mal größer und ausdrucksvoller wurden, in Paris bekannt, fing an sie zu verkaufen – da zwang die Katastrophe des Ersten Weltkrieges, die wie ein alles zerstörendes Beben über die Menschheit kam, ihn, den deutschen Staatsbürger, Frankreich fluchtartig zu verlassen. Seine einzigartige Sammlung moderner Kunst wurde beschlagnahmt, unter Wert veräußert und in alle Winde zerstreut.
    Zehn Jahre später kehrte er zurück, und noch einmal verbanden sich die Lebenswege dieser beiden sonderbaren Menschen, um schon bald danach von einem gnadenlosen Schicksal erneut und endgültig auseinandergerissen zu werden, das ihn auf den Boden einer noch härteren politischen Wirklichkeit und sie in die Bodenlosigkeit des Wahnsinns fallen ließ.
    Die Geschichte von Wilhelm und Séraphine ist traurig wie viele Geschichten, die sich auf diesem Planeten ereignen.
    Aber weil etwas Wunderbares in ihr vorkommt und eine nicht unwesentliche Rolle spielt, eine zarte Liebe nämlich und der Glaube an die Schönheit, die über die Häßlichkeit und all unsere Ängste triumphiert, darum kann man sie immer neu erzählen, und eben darum kam auch eines Tages ein Mensch aus Paris nach Dilbeek, einem schauerlichen Flecken in einer der unwirtlichsten Gegenden Flanderns, wo ich gerade einen Film drehte mit dem Titel »Où est la main de l’homme sans tête?«, um sich zu erkundigen, ob ich mir vorstellen könne, Wilhelm Uhde in einem von ihm selbst geschriebenen, übrigens auch finanzierten Spielfilm zu verkörpern.
    Ich sagte zu, und schon ein Vierteljahr später bezog ich die kleine Badekabine in Trilport.
    DIE DREHARBEITEN FANDEN in Senlis statt, einem mittelalterlichen Städtchen am Rande der Picardie, in dem Séraphine einen großen Teil ihres Lebens verbracht hatte, aber auch in den anmutigen Tälern der Oise, der Seine und der Marne, dort, wo französische Maler Ende des neunzehnten Jahrhunderts in die Natur hinausgegangen waren, um einen flirrenden, farbenprächtigen Stil zu entwickeln, den man später Impressionismus nannte.
    Nach Séraphines Unterkunft aber hatte man lange gesucht, und weil es eine heruntergewohnte Kammer aus morschem Holz, rissigem Mörtel, sichtbarem Geruch und voll wunderlicher Details sein sollte, kam auch kein Studioaufbau in Frage.
    François, der
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