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Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Titel: Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
Autoren: Edward O. Wilson
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auch dann noch, wenn ich persönlich neue Sachverhalte schon lange nicht mehr erfassen kann. Für den Fall aber, dass die Gesamtfitness-Theorie auch weiterhin weithin Anwendung findet, sollte sich das kaum darauf auswirken, dass die Gruppenselektion als Antriebskraft für unsere Herkunft und unseren weiteren Weg wahrgenommen wird. Die Theoretiker der Gesamtfitness selbst argumentieren, dass die Verwandtenselektion sich in Gruppenselektion übersetzen lässt, wenngleich diese Annahme inzwischen mathematisch widerlegt wurde. Noch wichtiger ist, dass die Gruppenselektion ganz klar der Prozess ist, der für das fortgeschrittene Sozialverhalten verantwortlich ist. Zugleich enthält sie die beiden Elemente, die Voraussetzung für die Evolution sind. Erstens wurde erwiesen, dass Merkmale auf Gruppenebene, also Kooperation, Empathie und Muster der Vernetzung, mit anderen beim Menschen erblich sind – das heißt, in gewissem Ausmaß ist ihre Variation von einem Menschen zum anderen genetisch bedingt. Zweitens beeinflussen Kooperativität und Zusammenhalt nachweislich die Überlebensfähigkeit von Gruppen im Wettbewerb.[ 1 ]
    Weiterhin ist klar, dass die Wahrnehmung der Gruppenselektion als Hauptantriebskraft für die Evolution gut zu einer Reihe der typischsten – und verblüffendsten – Merkmale der menschlichen Natur passt. Resonanz findet sie zudem in Forschungsergebnissen aus den ansonsten so divergierenden Gebieten der Sozialpsychologie, der Archäologie und der Evolutionsbiologie, denen zufolge der Mensch von Natur aus stark stammesorientiert ist. Ein Grundelement der menschlichen Natur lautet, dass der Mensch sich zur Zugehörigkeit zu einer Gruppe genötigt fühlt und die eigene Gruppe als konkurrierenden Gruppen überlegen erachtet.
    Die Multilevel-Selektion (also die Kombination der Gruppen- und der Individualselektion) erklärt auch die Tatsache, dass verschiedene Motivationen häufig im Konflikt zueinander stehen. Jeder gesunde Mensch spürt den Sog des Gewissens, das Tauziehen zwischen Heldentum und Feigheit, Wahrhaftigkeit und Betrug, Engagement und Rückzug. Es ist unser Schicksal, dass wir uns durch die großen und kleinen Dilemmata quälen, wenn wir uns unseren Weg durch die riskante, widrige Welt bahnen, die uns hervorgebracht hat. Wir haben gemischte Gefühle. Wir wissen nicht, ob wir so oder so handeln sollen. Wir begreifen allzu gut, dass niemand so weise und großartig ist, dass er vor einem katastrophalen Fehler gefeit wäre, und keine Organisation so ehrwürdig, dass sie nicht korrumpierbar wäre. Wir, jeder Einzelne von uns, leben unser Leben in Konflikt und Widerstreit.
    Die Konflikte, die sich aus der Multilevel-Selektion ergeben, sind zugleich der Urquell der Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Mensch ist fasziniert von anderen Menschen, so wie alle anderen Primaten von ihren eigenen Artgenossen fasziniert sind. Es bereitet uns nie endendes Vergnügen, unsere Verwandten, Freunde und Feinde zu mustern und zu analysieren. Klatsch und Tratsch waren schon immer eine menschliche Lieblingsbeschäftigung, und das in jeder Gesellschaft von den Verbänden der Jäger und Sammler bis an die Höfe der Könige. Die Absichten und die Vertrauenswürdigkeit derer, die unser eigenes persönliches Leben beeinflussen, so sorgfältig wie möglich abzuwägen, ist zugleich sehr menschlich und höchst adaptiv. Ebenso adaptiv ist es zu bewerten, wie sich das Verhalten anderer auf das Wohlergehen der Gruppe auswirkt. Wir sind Genies darin, die Absichten der anderen zu lesen, die ja selbst auch in jedem Moment mit ihren eigenen Engeln und Dämonen kämpfen. Um den Schaden zu begrenzen, den wir mit unseren unvermeidlichen Fehltritten anrichten, haben wir unsere bürgerlichen Gesetzbücher.
    Erschwert wird die Konfusion noch dadurch, dass die Menschheit in einer von Mythen und Geistern heimgesuchten Welt lebt. Das schulden wir unserer frühen Geschichte. Als unseren entfernten Vorfahren vor wahrscheinlich 100.000 bis 75.000 Jahren ihre persönliche Sterblichkeit bewusst wurde, suchten sie nach einer Erklärung dafür, wer sie waren, und nach einem Sinn für die Welt, die jeder Mensch schon bald würde verlassen müssen. Wahrscheinlich fragten sie: Wohin gehen die Toten? In die Welt der Geister, glaubten viele. Und wie können wir sie vielleicht wiedersehen? Möglich war das jederzeit im Traum oder unter dem Einfluss von Rauschmitteln, Zauberei, von Selbstkasteiung und Selbsttortur.
    Die frühen Menschen hatten jenseits
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