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Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Titel: Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward O. Wilson
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Ausmaß wie Sprache und Schrift verändert sie die Weltsicht der Menschen. Das Erlernen eines Musikinstruments verändert sogar die Gehirnstruktur, von den subkortikalen Nervenbahnen, die Klangmuster verarbeiten, über die Nervenfasern, die die beiden Gehirnhälften verbinden, bis hin zu den Mustern, nach denen die Dichte der grauen Substanz in bestimmten Regionen des Zerebralkortex verteilt ist. Musik wirkt sich beträchtlich auf das menschliche Fühlen und auf die Interpretation von Ereignissen aus. Die neuronalen Schaltkreise, die sie nutzt, sind außerordentlich kompliziert; offenbar löst sie in mindestens sechs verschiedenen Gehirnmechanismen Emotionen aus.
    In der mentalen Entwicklung ist Musik eng mit Sprache verbunden und leitet sich in gewisser Hinsicht offenbar von der Sprache ab. Die Unterscheidungsmuster für hohe und tiefe Tonlagen sind dieselben. Doch während der Spracherwerb bei Kindern schnell und weitgehend autonom abläuft, wird Musik langsamer erworben und benötigt Unterricht und Übung. Zudem existiert für den Spracherwerb ein deutliches Zeitfenster, in dem die Fertigkeiten schnell und leicht aufgenommen werden; für Musik ist eine solche sensible Phase nicht bekannt. Aber sowohl Sprache als auch Musik funktionieren syntaktisch, sind also aus einzelnen Elementen zusammengesetzt – Wörtern, Tönen und Akkorden. Von Menschen mit angeborener Amusie («Unmusikalität»; etwa 2 bis 4 Prozent der Bevölkerung) leiden etwa 30 Prozent gleichzeitig an einer Wahrnehmungsschwäche für Tonalitäten; dasselbe gilt für sprachliche Störungen.
    Insgesamt ist zu vermuten, dass Musik in der menschlichen Evolution relativ spät aufkam. Es ist gut möglich, dass sie sich aus der Sprache heraus entwickelte. Diese Annahme rechtfertigt freilich nicht den Schluss, dass Musik lediglich eine kulturelle Weiterentwicklung der Sprache ist. Zumindest ein Merkmal teilt sie nicht mit der Sprache: das Metrum, das sich zudem noch vom Lied auf den Tanz übertragen lässt.
    Es scheint plausibel anzunehmen, dass die neuronale Verarbeitung der Sprache als Präadaption für Musik diente und dass Musik, als sie einmal entstanden war, sich als so vorteilhaft erwies, dass sich eine eigene genetische Prädisposition dafür herausbildete. In diesem Bereich steht noch viel lohnenswerte Forschung aus; sie müsste Elemente aus Anthropologie, Psychologie, Neurowissenschaften und Evolutionsbiologie zu einer Synthese führen.

VI.
WOHIN GEHEN WIR?

27.
EINE NEUE AUFKLÄRUNG
    Wissenschaftliche Erkenntnis und Technologie verdoppeln sich je nach Fachgebiet alle zehn bis zwanzig Jahre. Dieses exponentielle Wachstum macht es unmöglich, die Zukunft weiter als um ein Jahrzehnt vorauszusehen, geschweige denn um Jahrhunderte oder Jahrtausende. Aus dieser Verlegenheit heraus stellen Futuristen gerne Überlegungen dazu an, in welche Richtung die Menschheit ihres Erachtens gehen sollte. Angesichts unseres erbärmlichen Selbstverständnisses als Spezies könnte es freilich derzeit ein besseres Ziel sein, sich zu entscheiden, wohin es nicht gehen sollte. Was also sollten wir tunlichst vermeiden? Wenn wir darüber nachdenken, kommen wir immer wieder auf die existenziellen Fragen zurück: Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?
    Der Mensch ist eine Figur in einer Geschichte. Wir sind die Wachstumsspitze eines unvollendeten Epos. Die Antwort auf die existenzielle Frage muss in der Geschichte liegen, und genau diesen Ansatz wählen natürlich die Geisteswissenschaften. Doch die konventionelle Geschichtswissenschaft ist selbst verkürzt, sowohl was die zeitliche Reichweite als auch was die Wahrnehmung des menschlichen Organismus angeht. Geschichte ohne Vorgeschichte ergibt keinen Sinn, und genauso sinnlos bleibt Vorgeschichte ohne Biologie.
    Der Mensch ist eine biologische Art in einer biologischen Welt. In jeder Funktion unseres Körpers und unseres Geistes, auf jeder ihrer Ebenen sind wir außerordentlich gut dem Leben auf genau diesem Planeten angepasst. Wir gehören in die Biosphäre unserer Geburt. Obwohl wir in vielerlei Hinsicht herausragen, sind und bleiben wir eine Tierart der globalen Fauna. Unser Leben unterliegt der Einschränkung durch die beiden Gesetze der Biologie: Alle Einheiten und Prozesse des Lebens folgen den Gesetzen der Physik und Chemie; und alle Einheiten und Prozesse des Lebens sind in der Evolution durch natürliche Selektion entstanden.
    Je mehr wir über unsere physikalische Existenz lernen, desto offensichtlicher

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