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Die souveraene Leserin

Die souveraene Leserin

Titel: Die souveraene Leserin
Autoren: Alan Bennett
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Lektüre seiner Biographie herausfand, dass er hinterher geäußert hatte, wäre sie ein Junge gewesen, hätte er sich in sie verliebt.
    Das hätte er ihr natürlich nicht ins Gesicht sagen können, soviel war ihr klar, aber je mehr sie las, desto trauriger fand sie es, wie sehr sie die Menschen einschüchterte, und wünschte sich, zumindest Schriftsteller könnten den Mut aufbringen, gleich auszusprechen, was sie dann später aufschrieben. Sie entdeckte außerdem, wie ein Buch zum nächsten führte, wie sich immer mehr Türen öffneten, wo sie sich auch hinwandte, und dass die Tage für alles, was sie lesen wollte, nicht ausreichten.
    Aber Reue und Bedauern empfand sie auch angesichts der zahlreichen Gelegenheiten, die sie verpasst hatte. Als Kind hatte sie Masefield und Walter de la Mare kennengelernt; zu denen hätte sie nicht viel zu sagen gehabt, aber sie hatte auch T. S. Eliot getroffen, außerdem J. B. Priestley, Philip Larkin und sogar Ted Hughes, für den sie ein wenig geschwärmt hatte, der jedoch in ihrer Gegenwart ebenso ratlos gewirkt hatte wie die anderen. Doch weil sie zu jener Zeit so wenig von deren Werken gelesen hatte, fand sie keine Worte, und die Schriftsteller ihrerseits hatten natürlich nur wenig Interessantes hervorgebracht. Was für eine Verschwendung.
    Sie machte den Fehler, Sir Kevin gegenüber davon zu sprechen.
    »Aber Ma’am sind doch sicher informiert worden?«
    »Natürlich«, sagte die Queen, »aber Informieren ist nicht gleich Lesen. Es ist im Grunde sogar der Gegenpol des Lesens. Information ist kurz, bündig und sachlich. Lesen ist ungeordnet, diskursiv und eine ständige Einladung. Information schließt ein Thema ab, Lesen eröffnet es.«
    »Ob ich die Aufmerksamkeit Eurer Majestät wohl wieder auf den Besuch der Schuhfabrik lenken darf?«
    »Nächstes Mal«, beschied die Queen knapp. »Wo habe ich wohl mein Buch hingelegt?«

    Nachdem sie die Freuden des Lesens für sich entdeckt hatte, war Ihre Majestät darauf bedacht, sie weiterzugeben.
    »Lesen Sie, Summers?«, fragte sie ihren Chauffeur auf der Fahrt nach Northampton.
    »Lesen, Ma’am?«
    »Bücher?«
    »Wenn ich Gelegenheit habe, Ma’am. Aber irgendwie finde ich nie die Zeit dafür.«
    »Das sagen viele Menschen. Man muss sich die Zeit nehmen. Heute Vormittag zum Beispiel. Sie werden vor dem Rathaus im Auto sitzen und auf mich warten. Da könnten Sie doch lesen.«
    »Ich muss ein Auge auf den Wagen haben, Ma’am. Wir sind hier in den Midlands. Da herrscht überall Vandalismus.«
    Nachdem er Ihre Majestät sicher in die Hände des Lord Lieutenant der Grafschaft übergeben hatte, Umschrift Summers einmal wachsam den Wagen und ließ sich dann auf dem Fahrersitz nieder. Lesen? Natürlich las er. Jeder Mensch las. Er öffnete das Handschuhfach und entnahm ihm seine heutige Ausgabe der Sun.
    Andere, namentlich Norman, zeigten mehr Verständnis, und vor ihm versuchte sie ihre Lektüredefizite oder ihre fehlende kulturelle Kompetenz auch gar nicht zu verbergen.
    »Wissen Sie«, sagte sie eines Nachmittags zu ihm, als sie in ihrem Arbeitszimmer lasen, »auf welchem Gebiet man wirklich glänzen könnte?«
    »Nein, Ma’am?«
    »Bei Wer wird Millionär?. Man ist überall gewesen, hat alles gesehen, und wenn man womöglich auch Schwierigkeiten im Bereich Popmusik und bei manchen Sportarten haben dürfte, so hätte man doch die Hauptstadt von Simbabwe oder das Hauptexportprodukt von Neusüdwales sofort parat.«
    »Und ich könnte die Pop-Fragen übernehmen«, sagte Norman.
    »Ja«, sagte die Queen. »Wir wären ein gutes Team. Nun gut. Der unbefangene Weg. Von wem war das noch?«
    »Wie bitte, Ma’am?«
    »Der unbegangene Weg. Schlagen Sie es nach.«
    Norman schlug im Zitat-Wörterbuch nach und fand heraus, dass es sich um ein Gedicht von Robert Frost handelte.
    »Ich weiß jetzt die passende Bezeichnung für Sie«, sagte die Queen.
    »Ma’am?«
    »Sie erledigen Aufträge, sie bringen meine Bücher zur Bibliothek und besorgen mir neue, sie schlagen schwierige Wörter im Wörterbuch nach und finden Zitate für mich. Wissen Sie, was Sie sind?«
    »Früher war ich Laufbursche, Ma’am.«
    »Jetzt sind sie kein Laufbursche mehr. Sie sind mein Amanuensis.«
    Norman schlug das Wort im Lexikon nach, das die Queen jetzt ständig auf dem Schreibtisch liegen hatte. »Veraltete Bezeichnung für den Schreibgehilfen oder Sekretär eines Gelehrten; literarischer Assistent.«
    Der neue Amanuensis bekam einen Stuhl im Korridor, nahe dem Büro
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