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Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Autoren: Ursula Niehaus
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Kirchendiener mühten sich, Vaters steifen Leib anzuheben, damit die Frau des Goldschmieds das Bahrtuch über dem großen Tisch ausbreiten konnte. Sorgfältig strich sie die Falten aus dem Leinen und zog die Säume glatt. Wie frisch gefallener Schnee, dachte Fygen, und als Dörte und der Kirchendiener den Leichnam vorsichtig ablegten, erwartete sie fast, dass er tief einsinken würde.
    Er bot ein friedliches Bild, bis zu dem Moment, als der Kirchendiener versuchte, Vaters Hände in demütiger Haltung auf seiner Brust zu falten. Da schien plötzlich Leben in den toten Körper zu kommen, und Fygen erschrak zutiefst. Als wolle er sich der frommen Geste widersetzen, rutschten Vaters Arme immer wieder zur Seite, denn die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt.
    Als seine Arme zum dritten Mal in grotesker Weise über den Rand des Tisches hinabfielen, wurde Fygen übel, und sie beeilte sich, die Stube zu verlassen.
    Dörte folgte ihr, und die Spitzmaus schickte den Kirchendiener los, die nächsten Freunde und Verwandten über Vaters Tod zu unterrichten, wie es der Brauch war.
    Fygen half Dörte, die hölzernen, rot bemalten Kerzenständer abzustauben und die sechs Kerzen, jede zu mindestens einem Pfund Gewicht, darauf zu befestigen. Dann trugen sie die Kerzenständer vor das Haus, um sie dort aufzustellen, als Zeichen, dass in diesem Haus ein Toter zu beklagen war. Der böige Herbstwind ließ die Kerzen wild flackern, als sie vor die Tür traten, und Fygen musste die Flammen mit der Hand schützen, damit sie nicht verloschen. Die Spitzmaus trat zu ihnen und stellte neben den Kerzen ein schlichtes hölzernes Kreuz auf. Nun war alles bereit für die Totenwache. Mehr konnten sie nicht tun.
    Bald schon trafen die ersten Nachbarn und Vaters Freunde ein. Manch einer ließ die Arbeit ruhen, als er die Nachricht vom plötzlichen Tod des Freundes erhalten hatte, und machte sich auf den Weg in das Trauerhaus. War doch der Tod eines Freundes oder Angehörigen zugleich Mahnung für die eigene Sterblichkeit. Sie kamen, um sich zu besinnen, um Abschied zu nehmen und nicht zuletzt der Geselligkeit willen. Und so standen denn bald nicht wenige Männer in der guten Stube. Die Lichter zu Füßen des Verstorbenen spiegelten sich matt in der dunklen Holztäfelung der Stubenwände und tauchten den niedrigen Raum in eine feierliche Stimmung, noch verstärkt durch das Flackern der Kerzen vor dem Haus, deren unruhiges Licht durch die langsam aufsteigende Dämmerung ins Haus fiel.
    Für die Männer war es eine Ehrensache, in Schweigen und stillem Gebet die Totenwache bei dem aufgebahrten Leichnam zu halten. Ihre Frauen gesellten sich derweil zu Dörte und der Spitzmaus, die im Hofzimmer alle Hände voll zu tun hatten, die Gäste zu bewirten. Hier ging es weitaus fröhlicher zu als in der guten Stube. Der Kaminofen, der wegen der in diesem Jahr schon sehr früh einsetzenden Kälte bereits befeuert wurde, verbreitete eine wohlige Wärme, und die Frauen sprachen gehörig dem guten Nahewein zu. Genussvoll verspeisten sie die reichlich mitgebrachten Speisen und frönten ihrer liebsten Beschäftigung: dem Klatsch und Tratsch.
    Ein um das andere Mal musste Dörte in den Keller hinabsteigen, um die Krüge neu zu füllen, und während sich die Wangen und Nasenspitzen der Damen unter den sittsamen Hauben langsam zu röten begannen, wurde die Stimmung ausgelassener und die Rede offener.
    Von Fygen nahm kaum einer Notiz. Dörte hatte ihr das blaue Festtagskleid übergestreift. Es war aus feinster Wolle in einem kräftigem Indigoblau, das ihre honigfarbenen Augen zum Strahlen brachte. Sogar lange weite Schleppenärmel hatte es, wie die eleganten Kleider der feinen Damen. Vater hatte den Stoff eigens für sie mitgebracht, als er das letzte Mal in Geschäften unterwegs war. Als sie ihm vor Freude um den Hals gefallen war, hatte er nur gelacht und gesagt, sie solle daraus ein neues Kleid schneidern lassen, aber wehe, sie würde damit den jungen Kerlen gefallen, er sei schließlich mächtig eifersüchtig auf seine Prinzessin. Trotz des warmen Wolltuches fror Fygen arg, und sie kauerte sich auf der Ofenbank in eine Ecke. Ein Gesprächsfetzen wehte herüber, und ohne es zu wollen, schnappte Fygen die Worte auf, gesprochen von einer naiven, fast kindlich jungen Stimme: »Es heißt, er habe alles verloren. Sein ganzes Vermögen.«
    Und eine andere, unangenehm hohe Stimme sagte bissig: »Na, das Begräbnis sieht aber nicht danach aus. Hast du gesehen? Sechs Kerzen haben
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