Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin
Autoren: Jocelyne Godard
Vom Netzwerk:
zurück, als sie sah, dass es sich um ein Mädchen handelte.
    »Ach, bitte! Ihr dürft Dame Bertrande auf keinen Fall sagen, dass ich hier bin.«
    »So ist das also!«, lachte Isabelle, »dann versteckst du dich also auch vor Dame Bertrande.«
    »Warum? Wollt Ihr ihr auch nicht über den Weg laufen?«
    »Ja, wenn auch vermutlich aus anderen Gründen. Wenn du mir deinen verrätst, verrate ich dir vielleicht meinen.«
    Als Alix Isabelle mit der Fackel beleuchtete, sah sie eine junge Frau mit einem freundlichen Gesicht und strahlend blauen Augen, die ihr sehr gefielen. Sie beschloss also, sich ihr anzuvertrauen.
    »Meine Mutter ist letztes Jahr gestorben, und ihre Freundinnen haben ihr versprochen, dass sie sich um mich kümmern. Auf Wunsch von Königin Anne mussten sie nun die Werkstatt von Meister Yann in Nantes verlassen, um nach Amboise zu reisen und dort zu arbeiten. Ich will aber auf keinen Fall allein zurückbleiben, weil mich sonst die Nonnen holen, und dann hätte ich für immer meine Freiheit verloren.«
    Bei dem Wort »Freiheit« zuckte Isabelle zusammen. Wie recht hatte das kleine Mädchen, dass sie ein freies Leben dem Gefängnisdasein in einem Kloster vorzog!
    »Hast du denn keinen Vater mehr?«
    »Er ist bei der letzten Pest in der Bretagne gestorben.«
    »Und du befürchtest, Dame Bertrande könnte etwas gegen deinen Fluchtplan haben?«
    Alix legte sich wieder hin und drückte sich so eng es ging an die Wand, damit möglichst viel Platz unter der warmen Decke für ihre neue Freundin blieb.
    »Danke«, sagte Isabelle, »du bist sehr freundlich. Und wenn ich dir irgendwie helfen kann, frag mich bitte einfach. Wie heißt du eigentlich?«
    »Alix. Und Ihr?«
    »Isabelle.«
    »Oh – ich kenne eine Isabelle.«
    Bei dem Gedanken an Jacquous Geschichte errötete sie.
    »Ich kenne sie, habe sie aber noch nie gesehen.«
    »Vielleicht bin ich ja diese Isabelle?«
    »Das glaub ich kaum. Außer Ihr versteckt Euch vor Dame Bertrande, weil …«
    »Weil ich sie nicht mit meinen persönlichen Problemen belästigen will. Das ist alles. Wie du siehst, hat es ganz harmlose Gründe.«
    »Aber warum seid Ihr dann hierhergekommen, wenn Ihr Dame Bertrande gar nicht sehen wollt? Das Haus liegt doch nicht am Weg.«
    »Ich habe nicht gewusst, dass es ihr Haus ist, sonst wäre ich gewiss nicht hierhergekommen. Anselme hat es mir dann gesagt.«
    »Anselme! Woher wisst Ihr denn, dass der Kutscher Anselme heißt?«
    Die Kleine war wirklich nicht auf den Kopf gefallen, dachte Isabelle. Wenn sie noch ein paar Fragen stellte, würde sie bald herausfinden, dass Jacquou ihr Bruder war.
    »Er hat es mir gesagt.«
    »Aha!«
    Und weil Alix nicht weiterfragen wollte, weil das unhöflich gewesen wäre, erfuhr sie auch nicht die wahre Identität der jungen Frau, die nun müde murmelte: »Wie wär’s, wenn wir jetzt schlafen würden?«

3
     
    Seit dem Unfalltod von Charles VIII. wartete seine Witwe, Königin Anne, darauf, dass der neue König, Louis XII., der vor kurzem den Thron von Frankreich bestiegen hatte, seine Frau Jeanne verstieß oder sich von ihr scheiden ließ, um sie heiraten zu können. Wenn auch die Frist von einem Jahr, die Anne dem neuen König eingeräumt hatte, um sich von seiner Gattin zu befreien, kurz war, so war es doch vermutlich das längste Jahr überhaupt für die arme Jeanne, die man so plötzlich aus dem Königreich verbannt hatte.
    Was sonst hätte die verhöhnte Königin machen sollen, wenn nicht sich mit den einzigen Mitteln verteidigen, die ihr zur Verfügung standen? Sie hinkte, war hässlich und bucklig, aber auch gut und großzügig – doch die kleinen Leute aus Blois, die schon lange ihre wahren Qualitäten zu schätzen wussten, konnten sie bestimmt nicht vor diesem traurigen Los und dieser Niedertracht bewahren.
    Arme Jeanne! Ihr Gesicht war genauso wenig anmutig wie ihr schwächlicher Körper, den zwei kurze Beine trugen. Von ihrem Vater, Louis XI., hatte sie die lange, dicke Hakennase geerbt und die vorstehenden Augen, die allerdings nur so vor Intelligenz sprüh – ten – Geist und Verstand besaß Jeanne nämlich im Überfluss, was ihre körperlichen Mängel allerdings nicht aufwiegen konnte.
    Von diesen mehrfachen angeborenen Missbildungen ahnte bei ihrer Geburt niemand etwas. In der Wiege hatte sie ganz normal ausgesehen, und als sie größer wurde, ohne dass sich bereits irgendeine Anomalie bemerkbar gemacht hätte, wollte sie der König verheiraten, wie das in den Fürstengeschlechtern üblich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher