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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen
Autoren: Valeria Luiselli
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bevor ich mir einen Kaffee aufstellte, bevor ich Pipi machte, setzte ich mich hin und schrieb ein fiebriges Gutachten über
Sindbad der Gestrandete
von Gilberto Owen. Der chinesische Student aß gerade eine Suppe an seinem Arbeitstisch.
    *
    An manchen Abenden schreiben mein Mann und ich beide im Wohnzimmer, angespornt von Whisky, Tabak und der Aussicht auf Sex nach Mitternacht. Er sagt, dass wir eigentlich nur schreiben, um in Ruhe rauchen und trinken zu können. Nachdem wir einige Absätze getippt haben, zieht es uns ins Bett, erregt wie zwei Fremde, die sich zum ersten Mal treffen, sich nichts erzählen und keine Erklärungen fordern. Die Tabula rasa der Seiten, die Anonymität, die jene vielen Stimmen beim Schreibprozess gewähren.
    *
    In der Wohnung damals gab es nichts. Nicht einmal Gespenster gab es. Es gab einen Haufen halb lebendiger Pflanzen und einen toten Baum.
    *
    In diesem Haus fällt das Wasser aus. Der Mittlere sagt, es sei das Gespenst, das den Wasservorrat in der Zisterne aufbrauche. Er sagt, es sei ein verdurstetes Gespenst und trinke deshalb alles Wasser im Hause.
    *
    Pajarote lud mich an seinem Geburtstag zum Abendessen ein. Wir gingen in ein französisches Lokal. Ich wusste, in den USA ist französisch gleich elegant, also habe ich mich fein angezogen und mich so gut benommen, wie es eben ging. Ich habe wenig bestellt, eine Zwiebelsuppe und Miesmuscheln; er hat eine Ente verspeist. Ich habe ihm erregt von der Pflanze erzählt, die ich von der Dachterrasse des Gebäudes, in dem einst Owen wohnte, mitgenommen hatte, auch von der dicken Do, die mich gerettet hatte, von den möglichen Leben des Gilberto Owen im Harlem der Zwanzigerjahre, von meinem neuen Schreibtisch und dem Stuhl, über Moby und die japanischen Schlafröcke und darüber, wie traurig es mich gemacht hatte, auf einem Feldbett neben einer Druckmaschine mit einem langnasigen Mann zu schlafen. Pajarote betrachtete mich schweigend.
    Du hast ein Stück gerösteter Zwiebel am Zahn, sagte er, als ich endlich eine Pause machte.
    Wir aßen zu Ende, und man brachte uns ein Digestif in winzigen Gläschen. Als wir ausgetrunken hatten, steckte ich die Gläschen in die Tasche. Sie waren sehr hübsch. Pajararote sah mich perplex an. Ich habe heute Geburtstag, sagte er, stiehl heute bitte nichts. Ich kauf dir die Gläser. Und er rief den Kellner und kaufte sie mir.
    *
    Das Baby lacht zum ersten Mal laut. Sie macht ein Geräusch wie ein Wal und gleich darauf bricht ihre Stimme in vier leichten, abrupten, klangvollen Lachböen.
    *
    Mein erstes Gutachten über Owen hat White nicht überzeugt. Ich fand ein Zettelchen an meinem Computerbildschirm kleben: »Liefer mir was anderes, das ins Englische übersetzbar ist. Und bring mir den Holzstuhl zurück, den Du aus dem Bad geklaut hast, dann können wir über Deinen Owen diskutieren. Yours, W.«
    Im Unterschied zu den meisten Gringo-Verlegern war White nicht monoglott. Und im Unterschied zu den meisten Spanisch sprechenden Gringos, die eine lange oder kurze Zeit in Lateinamerika verbracht haben und daher glauben, eine Art von internationaler Dritte-Welt-Gestähltheit aufzuweisen, die sie geistig und moralisch in die Lage versetzt – wozu, weiß ich auch nicht recht –, kapierte White tatsächlich die beschissenen Mechanismen der literarischen Geschichte Lateinamerikas. Angesichts seiner Absage wäre esnur natürlich gewesen, auf ihn zu hören und Owen sausen zu lassen.
    *
    Der Mittlere zu seinem Vater:
    Haben die Tintenfische einen Pimmel?
    Ich arbeite.
    Und die Garnelen? Und die Quallen?
    Der Vater des mittleren Kindes denkt einen Augenblick nach, und dann:
    Die Garnelen sind Pimmel.
    *
    Als ich mit der Kleinen schwanger wurde, sagte mir der Arzt, diese Schwangerschaft sei mit »hohem Risiko« verbunden. Ich hörte auf zu rauchen, zu trinken, zu laufen. Ich hatte Angst, dass die Kleine sich nicht fertigbilden oder missbilden könnte: die Wirbelsäule unvollendet, schief; das Nervensystem außer Lot; geistig zurückgeblieben, lernbehindert, blind, plötzlicher Kindstod. Ich bin nicht religiös, aber eines Tages bekam ich auf der Straße eine Panikattacke – meine Schwester Laura erklärte mir später, dass ich eine Panikattacke gehabt hatte –, und ich musste bei einer Kirche Halt machen. Ich ging hinein, um zu beten. Das heißt, ich ging hinein, um etwas zu erbitten. Ich betete um die noch formlose Kleine, um die Liebe ihres Vaters und ihres Bruders, um meine Angst. Eine gewisse Stille gab mir die
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