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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen
Autoren: Valeria Luiselli
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hatte weder Strom noch fließend Wasser. Moby wohnte dort, allein. Er kochte sich Dosensuppen auf einem Kerosinherd und schlief auf einem ausrangierten Feldbett neben der Druckmaschine. Sein Lieblingsbuch war die Biografie von George Santayana. Er stand jeden Tag um fünf Uhr früh auf, brühte sich einen grünen Tee und arbeitete bis nachmittags an der Druckmaschine. Dieser Lebensstil war seine eigene Entscheidung, nicht, dass es keine anderen Optionen gegeben hätte. Es gibt zwei Typen von Menschen: diejenigen, die einfach leben, und diejenigen, die ihr Leben designen. Moby gehörte zu der zweiten Sorte. Wollte man in sein Haus, musste man die Schuhe ausziehen und japanische Pantoffeln anziehen. Es lag etwas Gekünsteltes in diesem Leben, in der übertriebenen Ästhetisierung jener Realität, die dahingehend designed war, dass sie von Zuschauern wie durch eine Linse betrachtet wurde. Eigentlich passte ich nicht in Mobys filmreifes Leben. Deshalb nahm ich den grünen Tee an, deshalb ließ ich zu, dass Moby mich entkleidete und mir einen japanischen Morgenmantel anzog, ihn mir dann wieder auszog, um mit seinen knochigen Händen, seiner dünnen Nase, seinen schmalen, fast unsichtbaren Lippen über meinen Körper zu wandern. Deshalb schlief ich nackt auf seinem Feldbett neben der Druckmaschine und lief am nächsten Morgen davon. Ich pflegte immer zwei Schlüsselbunde dabeizuhaben – einen steckte ich in meinen Rucksack und den anderen indie Tasche meines roten Mantels, für den Fall, dass ich einen von beiden verlieren sollte –, und bevor ich ging, legte ich Moby den einen Schlüsselbund auf einen Zettel mit meiner Adresse.
    *
    Das Baby schläft. Das mittlere Kind, mein Mann und ich setzen uns auf die Treppe vor der Eingangstür. Der Mittlere fragt:
    Papa, was ist eine Wespe?
    Das ist eine gefährliche Biene.
    Und ein Killerwal?
    Ein Schwertwal.
    Ein Schwertball! Und wie heißt das auf Englisch?
    Das heißt: Moby Dick.
    *
    Eines Abends habe ich einen Schreibtisch für meine leere Wohnung akquiriert. Ich habe ihn nicht gekauft. Auch nicht gestohlen. Ich muss vermutlich sagen, dass er für mich gefunden wurde. Ich saß in einer Raucherbar. Ich hatte den Abend damit verbracht, mir Zigaretten zu drehen, und blätterte in einer äußerst faden Anthologie, die ins Englische übersetzte mexikanische Freunde von Octavio Paz versammelte – da gehört vielleicht irgendwo ein »Ergo« dazwischen, aber ich weiß nicht recht, wohin ich es setzen soll –, während ich darauf wartete, dass Dakota nach ihrem letzten Gig aus einer nahen Bar kam. Als ich einen Augenblick dann dochvon der Lektüre abgelenkt war, spürte ich, wie jemand mich von draußen aus anblickte. Durch das Fenster sah ich Dakota auf dem Gehsteig, sie saß auf irgendetwas und zupfte an ihren Strümpfen. Sie winkte mir aus der Ferne zu und machte mir Zeichen hinauszukommen. Ich zahlte. Dakota saß auf einem altmodischen Schreibtisch, ihre kleinen roten Schuhe mit dem hohen Absatz standen neben ihr.
    Ich habe einen Schreibtisch für dich gefunden, sagte sie, damit du deine Sachen schreiben kannst.
    Und wie soll ich den mitnehmen?
    Wir tragen ihn bis zu dir nach Hause. Schau, ich hab mir schon die hochhackigen Schuhe ausgezogen.
    Erst haben wir ihn geschoben, dann haben wir versucht, ihn zu tragen, jede hielt zwei Ecken. Es war so gut wie unmöglich: Die Wohnung war mehr als dreißig Blocks entfernt. Schließlich sind wir druntergekrochen und haben ihn auf Kopf und Handflächen getragen. Dakota sang den Rest des Weges über. Ich machte den Chor. Wir bekamen Blasen.
    *
    Tagsüber kann ich nur schreiben, wenn die Kleine neben mir ihre Nickerchen macht. Sie hat gelernt, nach den Dingen zu greifen, die in ihre Nähe kommen, und klammert sich zum Schlafen an meine rechte Hand. Ich schreibe eine Weile mit der linken. Die Großbuchstaben sind sehr schwierig. Zwei oder drei Mal versuche ich, meine Hand zurückzugewinnen, sie sanft aus den winzigen Gitterstäben ihrer Finger zu ziehen, sie zur Tastatur zu führen und eine weitere Zeile zu schreiben.Sie wacht auf und weint, schaut mich vorwurfsvoll an. Ich gebe ihr meine Hand zurück, und sie liebt mich wieder.
    *
    Um den neuen Schreibtisch benutzen zu können, holte ich mir einen der Stühle aus dem Verlag. Niemand benutzte ihn, es war unwahrscheinlich, dass irgendjemand meinen Übergriff bemerkte, schon seit Monaten war der Stuhl im Bad abgestellt und erfüllte keine andere Funktion, als eine Klopapierrolle zu tragen. Er
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