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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
Autoren: Uwe Tellkamp
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verloren und bestohlen ein solches Druckerzeugnis auf dem Boden liegen kann, geknickt und bald von niemandem mehr beachtet, bis es in irgendeinem wahrscheinlich steuerlich absetzbaren Schredder vernichtet wird; »jetzt«, wo der JC-Decaux-Mann ein merkwürdig breites Messer zieht und den Klebefilm, der die neue Rolle zusammenhält, durchtrennt, blenden sich, indem ich Werner Harand eine der gutgehüteten blaugepließteten Solinger Vollhohlschliff-Klingen zur Demonstration der korrekten Naßrasur an einen eingeseiften Luftballon legen und mit einer der geübten Prägnanz des Plakatwechslers nicht nachstehenden Schnittführung einen Streifen glattes Grün zurückerstatten sehe – blenden sich jene von ineinander übergehenden Licht-und-Schatten-Koronen verklärten Gesichter, die eine klassisch orientierte Porträtfotografie überliefert hat, in die Vorstellung der Jahrestiefen, Galerien eines »Gewesen«, von dem nur ein paar Namen und in Engrammen gefangene, zufällige Gesten bleiben (»ein ganzes Leben«), an denen, durch nichts als mündliche und flüchtige Transits, Reste mythischen Geschehens haften; unbestimmt, wie die Fahrt eines Schnellzugs dem Passagier in den flachlandrepetierenden, ein um das andere Auch-Bewohnt-Gebiet ausspielenden Erdkundestunden zwischen Abreise und Ankunft erscheint – bestimmt, indem ich die rote Flagge, Zier des Turnvereins, über den Tennisplätzen an einem der so dresdnerischen Frühlingsmorgen, die nach Sauerampfer schmecken, steigen sehe, und dadurch auch das »Foto Kino Optik«-Schild von Foto-Wolf, dessen leicht schräg gestellte, kakaobraune, geschlitzte Buchstaben mich mit irgendwo, vielleicht in den Vorratskammern eines Großen Zuhauses, sorgfältig aufbewahrtem Glück erfüllen: wie jeder Mensch, und erst recht hier, im Viertel meiner Kindheit, bin ich von gestern.

Neustadt Louisenstraße 2010

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    Dresden ist ein langer Blick zurück, Gegenwart nur die Wasseroberfläche der Vergangenheit, die steigt und steigt. Am Hauptbahnhof anzukommen hieß, für mich, Dresden an seiner ungedeckten Flanke zu betreten. Daß hier etwas nicht stimmte, spürte jeder, der einigermaßen musikalisch war und ein Gefühl für Proportionen mitbrachte – die neue Prager Straße war eine zugige Magistrale, gedämmt von Plattenbauklötzen und Scheibenhochhäusern, überschießendes Narbengewebe, dessen Weiß wohl nicht zufällig dem der Radiergummis ähnelte. Lenin, aus karelischem Granit, blickte fest in eine ungewisse Zukunft, sekundiert von Bundesgenossen hinter ihm; der Sozialismus, der soviel Wert auf die Gleichheit aller Menschen legte, kannte, was seine Führer betraf, immer Hierarchien, feine und weniger feine. Vor dem Jungen, der ich war, öffnete sich ein Wald aus Leninstatuen von Magdeburg bis nach Wladiwostok, von den Inseln im sowjetischen Polarmeer bis nach Kuba und Vietnam. Lenin, Marx und Engels in tausendfacher Kopie, Khans der Tatarenstädte, in denen der Neue Mensch leben sollte. Meine Eltern und ihre Freunde hoben sich die Beilage der »Sächsischen Zeitung« auf, in der das sozialistische Dresden projektiert war. Sie werden die Stadt endgültig umbringen, sagte Niklas, sie werden alles beseitigen, was an früher erinnert. – Heute sehe ich den Glasbarren eines Fitneßcenters, das Pullman-Hotel, vormals »Newa«, das neue Kugelhaus, das nicht so recht akzeptiert wird (weil es keine richtige Kugel sei), die Baugrube am Wiener Platz, für die sich offenbar kein Investor findet. Die Frau auf dem Wandbild »Dresden grüßt seine Gäste«, am einstigen Selbstbedienungsrestaurant Bastei, schwenkt noch immer einen Blumenstrauß – für eine Wand. Die Prager Straße ist nicht mehr die sibirisch weite Fußgängerzone meiner Kindheit, doch die Lange Zeile an der Petersburger, früher Leningrader Straße, einst vielbeworbene zentrale Wohnmaschine, weiß mit ihrer Monumentalität so wenig anzufangen wie je. Strenge, abweisende Kontur, mehr Geometrie als lebendige Form. Manche Architekten sahen und sehen das anders, nennen das Ensemble der neuen Prager Straße spielerisch, betrachten es als fortschrittlich, als städtebauliche Glanzleistung aus dem Geistdes Aufbruchs, nachempfunden der Rotterdamer Lijnbaan. Stephan Braunfels, Erbauer der Pinakothek der Moderne in München, meint, daß mit der Prager Straße einer der besten Stadträume nicht nur des Nachkriegs, sondern des 20. Jahrhunderts geschaffen worden sei. Mag sein. Es kann an mir und meinen Bekanntschaften liegen – ich erinnere
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