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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Damen-Herren-Ausstatter, HO Kaufhalle, die fünfundzwanzig Meter mit Gardinen zugehängte Fensterfassade eines Friseurladens, die Musikalienhandlung (»Musikinstrumente aus der DDR – weltbekannt«), im Auslagen-Gähnen »Rhabarbergeigen«, billige Anfängerinstrumente, die vor Zuversicht glänzten, obwohl sie Relikte einer Kultur waren, die von offizieller Seite mindestens scheel angesehen wurde. Prager Straße, Wind, Kindheit, wo der Junge, der ich war, an der Hand seines Vaters geht, hinter uns die Interhotels, die an einem sonnigen Oktobertag Maß nehmen, Vater in einer Kabanjacke, Frisur der siebziger Jahre mit Wellscheitel und langen Koteletten, das herrische Weiß der Flaniermeile, einbetonierte Blumenrabatten, die Tulpen nach Farben getrennt. Im Hintergrund das Rundkino, umlaufende konzentrische Gitter, in den Schaukästen Filmplakate mit Altersfreigabeempfehlung und dem Zeichen des »Progress«-Filmverleihs; das Gebäude wirkt, als wäre eine schwarzweiß gestreifte Puderdose als Raumschiff gelandet. Der Junge hat, nach inständigem Bitten, eine gelbe Plastschere bekommen, die an einem Stand für Solidaritätsartikel zwei Mark gekostet hat, dazu einen Wollfaden, an dem sie versagen wird, was nichts ausmacht, der Junge auf dem Foto lacht. Bommelmütze und gestrickte Hosen wirken lächerlich, was dem Vierjährigen wohl noch nicht bewußt sein kann. Vater dreißig Jahre, Assistenzarzt an der Medizinischen Akademie, wohnhaft zu Blasewitz, Nähe Waldpark; was mag der Mann mit den hageren Zügen, der den Fotografen skeptisch und prüfend anblickt, denken? Daß einLebenslauf davon abhängen kann, daß eine Kleinigkeit so geregelt wurde und nicht anders? Daß jemand fürsorgliche Eltern hatte und nicht gleichgültige? Daß jemand Verantwortung übernimmt und das Risiko, einen Ratschlag zu geben? Vater wollte Journalist werden. Beim Eignungsgespräch am »Roten Kloster«, wie die Leipziger journalistische Fakultät genannt wurde, verwickelte ihn der spätere Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift »Die Weltbühne«, Hermann Budzislawski, in ein längeres Gespräch: Mit Ihren Zensuren wollen Sie wirklich in den Journalismus? Überlegen Sie, es kostet mich einen Anruf, dann könnte ich Sie woanders vermitteln! Bemerkenswert, daß ein Ordinarius vor seinem eigenen Fach warnte. Vater blieb stur – und hatte sich als zukünftiger Journalistikstudent für ein Jahr »in der Produktion zu bewähren«. Er kam nach Hoyerswerda in einen Tagebau, in das berüchtigte Tausendmannlager, hatte am Tag seiner Ankunft auf die Beerdigung seines Vorgängers zu gehen. Diebe, Trunkenbolde, angehende Studenten der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst, Journalisten und solche, die es wie mein Vater erst werden wollten, Insassen von Jugendwerkhöfen, FDJ-Brigaden, idealistische Mädchen, die bald schwanger wurden, teilten sich die Arbeitsplätze mit den »Maikäfern«, Sträflingen, die einen phosphoreszierenden Streifen auf dem Rücken trugen; die Maschinisten stopften für sie heimlich Zigaretten unter die Gleisschwellen. Vater arbeitete mit dem König der Schlüssel, einem fingerfertigen Einbrecher, der es später noch weit bringen sollte. Wollte die Nachtschicht schlafen, stand die Frühschicht auf; die Frühschicht kam nicht zur Ruhe, weil die Nachtschicht aufbrach, den Rest besorgte der Lagerfunk. Wenn es regnete, versank alles im Schlamm. Immer wieder fiel nachts jemand beim Versetzen der Bandwalzen auf den Förderbrücken die sechzig Meter in die Grube hinab. Immer wieder staute sich Schlamm unter den Walzen, mußte herausgekratzt werden. Eines Tages geriet Vaters rechter Arm zwischen Förderband und Walze, die Stromunterbrechung mittels Reißleine versagte, der Gummi zerfetzte die Unterarmsehnen. Vater wurde Volontär bei den »Sächsischen Neuesten Nachrichten«. Die Redaktion hauste in einer gemütlichen Villa in der Antonstraße. Die Zeitung wurde noch im Bleisatz gesetzt, in der Nähe des Kraftwerks Mitte, dessen vier Schlote über der Stadt wie dieder Titanic rauchten. Der Chefredakteur harrte aus, am Fernschreiber, über den die Direktiven aus Berlin kamen, manchmal bei der Staatssicherheit, immer in der Zone der Genitive: der Einhaltung der offiziell gewünschten Formulierungen, der Beachtung der Artikel-Spaltenbreiten, der Sicherung der Anzahl sowie des Vorhandenseins bestimmter Fotos der führenden Vertreter der Partei der Arbeiterklasse. Die Kulturredakteure harrten ebenfalls aus, versuchten das Ihre,
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