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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin
Autoren: Janine Wilk
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an später denken. Bei mir im Waisenhaus sind die Mahlzeiten nicht besonders reichhaltig.«
    Rafael schwieg betroffen. Er wusste, dass es Sofia im Waisenhaus schwer hatte und sich dort niemand darum scherte, was das Mädchen so trieb. Im Gegensatz zu ihr besaß er Eltern, die sich um ihn sorgten, und auch wenn sie nicht viel Geld besaßen, so musste er doch niemals mit knurrendem Magen zu Bett gehen.
    Sofia verschränkte die Arme vor der Brust. »Jetzt sei kein Spielverderber!« Die Ungeduld in ihrem Tonfall war unüberhörbar. »Hast du nicht vor wenigen Stunden noch erzählt, wie sehr dich die strengen Regeln deines Vaters stören?«
    »Aber nur, weil er mir verboten hat, mit dir zu spielen!«
    »Komm schon, ehe der Händler uns bemerkt, sind wir längst wieder verschwunden. Vertrau mir, ich kenne hier jeden Winkel, jedes Schlupfloch, jeden schmalen Durchgang, durch den sich kein Erwachsener zwängen kann. Er erwischt uns garantiert nicht. Oder hast du etwa Angst?«
    Rafael sah unglücklich zu Boden. »Nein, habe ich nicht«, antwortete er und klang dabei nicht annähernd so überzeugend, wie er es gerne gehabt hätte. »Aber ich möchte es trotzdem nicht machen.«
    Sofia zog verärgert die Augenbrauen zusammen und ihr Blick verdunkelte sich. »Na schön, dann klauen wir die Geldbörse eben nicht!« Sie wandte sich ruckartig von ihm ab und starrte missmutig auf die Marktstände.
    Rafael stöhnte innerlich auf. Er hätte sich denken können, dass Sofia ihm das übel nehmen würde. Trotzdem war er erleichtert, dass sie sich von ihrem Vorhaben so schnell hatte abbringen lassen.
    »Bitte sei nicht böse, Sofia! Eigentlich sind wir doch hier, um uns den Sonnenaufgang anzusehen«, erinnerte er sie. »Es müsste jeden Moment so weit sein!«
    Sofia schwieg eine Zeit lang, dann drehte sie sich mit einem leichten Lächeln zu ihm um.
    »Gut, lass uns zu der Säule des Markuslöwen gehen«, lenkte sie ein.
    Rafael erwiderte dankbar das Lächeln und wollte schon in Richtung des Dogenpalastes laufen, als Sofia ihn leicht am Arm berührte.
    »Nur einen Moment noch«, hielt sie ihn zurück. »Ich klaue mir zum Frühstück nur schnell einen Apfel. Keine Sorge, das bemerkt niemand!«
    Rafael nickte ihr mit einem unterdrückten Seufzen zu. Er hätte sich gleich denken können, dass Sofia ihn nicht ohne Weiteres gewinnen lassen würde. Doch wenn sie partout etwas stehlen wollte, dann war ein Apfel allemal besser als eine Geldbörse.
    »Gut, ich warte hier auf dich!«
    Mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht drehte sich Sofia um und pirschte sich leichtfüßig wie eine Katze an die Marktstände heran.
    Rafael lehnte sich an eine der Säulen. Die Kälte des Steins drang durch sein leichtes Baumwollhemd und ließ ihn frösteln. Sein Blick wanderte über den Markusplatz. Am Himmel erschien das gräuliche Weiß des herannahenden Morgens. Wenn Sofia nicht schleunigst zurückkam, würden sie es nicht mehr rechtzeitig zu der Statue schaffen. Immerhin, so tröstete sich Rafael, bedeutete dies auch, dass die Ausgangssperre bald beendet sein würde und er gefahrlos seine Jacke würde überziehen können.
    Wo blieb nur Sofia? Er stieß sich von der Säule ab und sah sich suchend um. Von dem Mädchen war keine Spur zu sehen, er konnte noch nicht einmal einen Zipfel ihres roten Leinenkleides entdecken. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf. Stirnrunzelnd trat er aus den schützenden Arkaden herausauf die Piazza. Sofia hätte schon längst zurück sein müssen …
    Der Klang einer wütenden Stimme ließ ihn zusammenfahren.
    »Wachen! Wachen!«
    Sofia steuerte mit geröteten Wangen und wehenden Haaren auf ihn zu. In der einen Hand hielt sie einen Apfel, die andere umklammerte einen kleinen Lederbeutel. Die Geldbörse des Händlers!
    Sofias Verfolger war ihr dicht auf den Fersen. Zwar keuchte der Händler schwer, doch er ließ nicht von ihr ab. Schon flitzte Sofia an Rafael vorbei und warf ihm im Laufen den Apfel zu, den er automatisch auffing. Flink wie der Wind schlug Sofia einen Haken und verschwand mit ihrer Beute in der Seitengasse, aus der sie gekommen waren.
    »Elender Dieb!«, schrie der Händler.
    Es dauerte einen Moment, ehe Rafael begriff, dass er ihn damit meinte. Verständnislos blinzelte er den Händler an, der nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, dann sah er auf den Apfel in seiner Hand hinab. Er musste Rafael für Sofias Komplizen halten! Erschrocken ließ er den Apfel zu Boden fallen, drehte sich um und rannte los. Die
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