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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin
Autoren: Janine Wilk
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mit heller Stimme. »Es war tatsächlich unheimlich. Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.«
    Eine dicke Frau, die bisher schweigend zugehört hatte, meldete sich zu Wort. Ihr Gesicht war so bleich, dass es im Zwielicht wie ein kleiner Mond leuchtete. »Ich wohne direkt um die Ecke und habe alles mitangehört.« Sofort hattesie die ungeteilte Aufmerksamkeit der Männer. Selbst die beiden Wächter musterten sie neugierig.
    »Der Mann hat nicht einfach nur geschrien – er … er hat Venedig verflucht!« Ihre Stimme zitterte vor Aufregung. »La Serenissima solle dahinsiechen, zugrunde gehen, von Pest und Unglück heimgesucht werden – so lange, bis sie nur noch ein Schatten ihrer einstigen Pracht ist.«
    Rafael lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wer konnte Venedig nur so sehr hassen, dass er einen derartigen Fluch ausstieß? Jeder, der diese Stadt betrat, wurde von ihrem Zauber gefangen genommen und selbst die wenigen, die Venedig nicht von Herzen liebten, nahmen doch ihre Einzigartigkeit wahr und respektierten sie. Für einen Venezianer war es unvorstellbar, solch eine abscheuliche Prophezeiung auszusprechen!
    »Der Mann war wie von Sinnen und gleichzeitig stieß er seine Worte mit solcher Inbrunst aus, dass ich vor meinen Augen schon unsere geliebte Stadt untergehen sah«, fuhr die Frau nach einer unbehaglichen Pause fort. »Denn das waren seine letzten Worte: Venedigs Ende sei gekommen, wenn ihre Kinder sie verlassen wie die Ratten das sinkende Schiff. Dann solle die Stadt vom Meer verschluckt werden.«
    Einige der Händler zogen scharf die Luft ein, während die anderen betroffen schwiegen. War nicht genau dies die größte Angst eines jeden, der hier lebte? Jedes Haus, dessen Fundament in die Kanäle absackte, jedes Hochwasser, das die Stadt heimsuchte und die Gassen überflutete, erinnerte seine Bewohner schmerzlich daran, wie vergänglich Venedig war. Wie Krieger hatten die Menschen ein fremdes Elementerobert, indem sie diese Stadt im Meer erbauten. Wäre es nicht möglich, dass sich das Meer eines Tages zurückholte, was ihm gehörte? Aber keiner von ihnen hätte jemals gewagt, diesen Gedanken laut auszusprechen.
    »Was für einen Unsinn Betrunkene herumschreien!« Der Wächter lächelte durch seinen Bart hindurch beruhigend in die Menge und wandte sich an die Frau. »Sie haben es selbst gesagt: Er war wie von Sinnen. Ein Verrückter! Wahrscheinlich steckt der Arme schon im Gefängnis.« Er klatschte in die Hände. »Nun genug der Tratscherei. Geht an die Arbeit!«
    Die Gruppe zerstreute sich murrend und die beiden Wächter begannen gemächlichen Schrittes ihre Runde.
    Rafael ließ sich gegen den kühlen Stein der Säule sinken. Ein Fluch, der über Venedig verhängt worden war? Nein, das war einfach unvorstellbar. Der Wächter hatte sicherlich recht damit, dass es sich bei dem nächtlichen Geschrei nur um einen Geistesgestörten gehandelt hatte, der nicht wusste, was er von sich gab.
    »Rafael, sieh mal!«
    Sofias Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Das Mädchen beobachtete immer noch die Händler auf der Piazza und kaute dabei bedächtig an einer ihrer schwarzen Haarsträhnen herum.
    »Der Händler dort hat seine Geldbörse mitten auf dem Tisch abgelegt!«
    Es dauerte einen Moment, ehe Rafael begriff, was sie damit sagen wollte. »Du willst sie doch nicht etwa stehlen?«
    Sofia zuckte mit den Schultern und setzte einen unschuldigenGesichtsausdruck auf. »Was wäre denn schon dabei? Im Gegensatz zu uns hat der Mann sicherlich genug Geld und wir könnten uns davon etwas zu essen kaufen.«
    Sofia deutete auf einen Stand in ihrer Nähe. Rafael erblickte den kahlköpfigen Händler mit dem dunkelbraunen Wams, der vorhin dem Wächter widersprochen hatte. Er war gerade darin vertieft, seine Auslagen aufzubauen und fauliges Obst auszusortieren, während seine Geldbörse einige Schritte von ihm entfernt auf einem kleineren Tisch lag. Die abgetragene Kleidung des Mannes und sein winziger Marktstand machten auf Rafael nicht unbedingt den Eindruck, als ob er viel Geld besäße.
    Er schluckte schwer. Es war eine Sache, während eines Festes eine kleine Nascherei zu stibitzen, wie sie es letzten Abend getan hatten, aber Geld zu stehlen … Alles in ihm rebellierte gegen diese Vorstellung. Er wollte kein Dieb sein!
    »Er wird uns sicherlich dabei erwischen«, versuchte er Sofia von ihrer Idee abzubringen. »Und außerdem habe ich gar keinen Hunger.«
    »Du vielleicht nicht, aber ich muss
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