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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin
Autoren: Janine Wilk
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doch das war momentan nicht wichtig.
    Die letzten Tage waren sehr turbulent gewesen. Viola, Stella und Isabella hatten jedes noch so kleine Detail der Beerdigung organisiert und Bekannte und Freunde empfangen, die zum Palazzo gekommen waren, um der Familie ihr Beileid auszusprechen. Abends saßen die drei Schwestern beieinander, sprachen über Fiorella, weinten, trösteten sich gegenseitig, erzählten sich Kindheitserinnerungen und brachten sich damit wieder zum Lachen. Francesca beneidete sie darum. Seit Fiorella in ihren Armen gestorben war, fühlte sie sich wie eine leere Hülle, in der immerwährender Winter herrschte. Selbst als ihre Großmutter in der Grabstätte der Medicis neben ihrem Ehemann zur letzten Ruhe gebettet wurde und Francesca zum Abschied zwei ineinanderverschlungene Rosen niedergelegt hatte, war sie nicht imstande gewesen, zu weinen.
    »Es war eine schöne Beerdigung, nicht wahr?«, unterbrach ihre Mutter ihre trüben Gedanken. »So viele Menschen sind gekommen. Es war so feierlich und friedlich. Es hätte Fiorella gefallen.«
    Francesca nickte. »Wahrscheinlich«, gab sie wortkarg zurück.
    Nur Isabella und Gianna wussten, was in der besagten Nacht wirklich geschehen war. Francesca hatte ihrer Mutter die ganze abenteuerliche und fantastische Geschichte von Anfang an erzählt. Sie hatte schon befürchtet, sie würde ihr nicht glauben, doch schließlich warf ihre Mutter ihr einen dankbaren Blick zu.
    »Ich bin froh, dass ich nun alles weiß«, meinte sie. »Schon immer hatte ich das Gefühl, dass mit unserer Familie etwas nicht stimmt. Das seltsame Verhalten von Papa, seine besessene Suche nach einem Buch, über das wir nichts Genaues wissen durften, seine Schreie, die wir in der Nacht oft gehört hatten, Cecilias schlagartige Veränderung nach seinem Tod, ihr Selbstmord – alles fügt sich plötzlich zusammen.«
    Trotzdem hatten sie beschlossen, den anderen eine nicht ganz so fantastische Version der Vorkommnisse zu erzählen. Francesca musste sie auswendig lernen, sodass ihr am nächsten Morgen, als die anderen Familienmitglieder zurück in den Palazzo kamen, die Lügengeschichte ohne zu stocken über die Lippen kam: Fiorella, so erzählte Francesca den anderen, sei bei Maria eingefallen, dass sie im Palazzoihren Ehering vergessen habe. Stur wie sie war, sei sie nicht mehr davon abzubringen gewesen, noch einmal zurückzufahren. Als dann jedoch das schwere Erdbeben einsetzte, wäre Francesca um ein Haar von einer herabstürzenden Deckenplatte getroffen worden und Fiorella habe dabei so einen Schreck bekommen, dass ihr Herz versagte.
    Natürlich waren alle geschockt und bestürzt über Fiorellas Tod. Viele Tränen flossen an diesem Tag. Doch sie trösteten sich auch damit, dass für Fiorella dieser schnelle Tod in Anbetracht ihres Gesundheitszustandes eine Gnade gewesen sei.
    Die Zerstörung der Wand, hinter der Francesca den Dolch gefunden hatte, schoben sie ebenfalls auf das Erdbeben. Die Familie konnte ihr Glück über Francescas Fund kaum fassen. Jahrelang hatten sie mit Geldproblemen zu kämpfen, dabei war inmitten des Palazzos ein solcher Schatz versteckt gewesen! Dank des juwelenbesetzten Dolches gehörten ihre finanziellen Sorgen erst einmal der Vergangenheit an, die Schäden des Erdbebens konnten repariert werden und der Umbau zur Gästepension war, zur Erleichterung aller, nicht mehr notwendig.
    Auch wenn die Trauer um Fiorella noch allgegenwärtig war, so schien im Grunde alles ein glimpfliches Ende genommen zu haben: Venedig war gerettet, die Medicis hatten sich von ihrer Schuld befreit und Fiorella hat das Ende gefunden, das sie sich gewünscht hatte.
    Francesca seufzte auf. Trotzdem fühlte sie sich, als wäre ihr Herz in jener Nacht zu Eis gefroren.
    Das Vaporetto legte mit dröhnendem Motor am Steg anund ließ sie an Bord. Francesca lief zum Bug des Schiffes und ihre Mutter folgte ihr. Vor ihnen lag Venedig – der leichte Nieselregen ließ die Dächer in den unterschiedlichsten Rottönen schimmern, die Häuser drängten sich dicht an dicht wie in einer Umarmung und dazwischen ragten die ehrwürdigen Türme und Kuppeln der Kirchen auf.
    Isabella atmete geräuschvoll die salzige Luft ein. »Ich habe ganz vergessen, wie schön Venedig ist. Selbst an so einem stürmischen Wintertag.«
    Sie wandte sich Francesca zu. »Die anderen warten sicherlich schon auf uns. Viola hat es sich nicht nehmen lassen, all unsere Freunde ins Restaurant einzuladen. Sie kocht heute nur Fiorellas
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