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Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen

Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen

Titel: Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen
Autoren: Licia Troisi
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sagen musste. Musste er ihr die Wahrheit gestehen? Aber welche Wahrheit? Die kannte er ja selbst nicht. Er hätte nicht mehr beschreiben können, was er für die eine oder andere, für Theana oder Dubhe, empfand. Beide verschmolzen so sehr zu einer einzigen Gestalt. »Seid ihr zusammen?« »Nein«, antwortete er leise. »Hat sie dich abgewiesen?« »Gewissermaßen.«
    Sie senkte den Blick und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Ganz plötzlich traf ihn die Ohrfeige, und fast erleichtert wie eine gerechte Strafe nahm er sie hin. »Ich konnte nichts dagegen tun«, sagte er. Ein Satz, der sogar in seinen eigenen Ohren unsinnig klang.
    »Sei bloß still! Ach, wie konnte ich bloß so dumm sein? Dabei dachte ich, es mache mir nichts mehr aus. Aber ...«
    Theana nahm die Hände vor das Gesicht und brach, leise schluchzend, in Tränen aus.
    Sie war so weit entfernt. Lonerin verstand ihren Schmerz, aber es machte ihn auch wütend, keinen Zugang zu ihr zu finden. Sanft umfasste er ihre Schultern, genauso wie damals, Monate zuvor, als sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. Doch als er sie in den Arm nehmen wollte, schaute sie zu ihm auf. Ihr Blick war voller Groll.
    »Sie hat dich abblitzen lassen, und jetzt kommst du zu mir. Ganz schön dreist!«
    »Nein, ich ...«
    »Belüg dich doch nicht selbst.«
    Mit einem Ruck wand sich Theana aus seinem Griff und stürmte in ihre Unterkunft, ohne dass Lonerin eine Möglichkeit gehabt hätte, sie zurückzuhalten.
    San saß da und ließ die Beine baumeln. Der Stuhl war zu hoch, und er ärgerte sich darüber, denn er wollte kein kleiner junge mehr sein. Wie ein Erwachsener fühlte er sich, und dieser Körper, in dem er gefangen war, kam ihm wie eine Last vor. Er stellte sich vor, wie das sein würde, wenn er erst ein stattlicher Jüngling wäre und machen konnte, wozu er Lust hatte. Niemand würde ihn mehr zu irgendetwas zwingen können, so wie jetzt, seinen Großvater zu treffen. Er wusste nicht, was er von der Sache halten sollte. Woher kam der plötzlich? So lange Zeit hatte er ihn für tot gehalten, dass er in seinem Denken einfach keinen Platz mehr hatte. Und die Vorstellung, dass er gleich leibhaftig durch diese Tür dort treten würde, kam ihm so abwegig vor, als müsse er einen Toten treffen. Aber Sennar lebte.
    San war nervös. Wie sollte er sich verhalten, wenn er gleich vor ihm stand? Sollte er »Opa« zum ihm sagen? Ihm um den Hals fallen? Im Grund war er doch ein Fremder für ihn. Und obwohl er der letzte Verwandte war, den er überhaupt noch hatte, verspürte er keinerlei Zuneigung für ihn. Nur Angst spürte er. Wohl zum ersten Mal, seit sie in Laodamea waren, hatte sein Leibwächter ihn allein gelassen. Immerhin. Denn kaum im Palast eingetroffen, hatte Ido, obwohl halb bewusstlos, sofort Befehl gegeben, ihn Tag und Nacht von einem Mann bewachen zu lassen. Gesagt, getan. Und jetzt hatte er diese Bohnenstange, diesen Soldaten am Hals, der kein Wort redete, sondern ihm nur wie ein Schatten folgte. Neben ihm kam er sich wirklich wie ein Säugling vor, und dass er die Wache nun endlich einmal los war, war das einzig Gute an diesem Treffen mit seinem Großvater, das ihn sonst nur mit Angst und Sorge erfüllte.
    Er betrachtete seine Schuhspitzen. Wie lange saß er wohl schon da und wartete, ohne dass jemand kam? Vielleicht war Sennar etwas dazwischengekommen. Oder er hatte selbst keine Lust, ihn zu sehen. Oder war ihm einfach die Zeit zu schade für einen Jungen wie ihn?
    Als die Tür aufging, sprang San sofort auf, fast so als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden, ähnlich wie früher, wenn sein Vater ins Zimmer kam und er mit seinen strahlenden Händen gespielt hatte.
    Mit unergründlicher Miene blieb Sennar auf der Schwelle stehen.
    Er ist alt, dachte San, und sein Herz begann wie wahnsinnig zu rasen. Einige Augenblicke standen sie wie angewurzelt einander gegenüber, so als sei die Zeit stehen geblieben.
    »Setz dich doch«, sagte Sennar schließlich und schloss die Tür hinter sich. Und seine Stimme ist so tief, dachte San wieder. Dieser Mann war vollkommen anders, als er ihn sich vorgestellt hatte. Jener Sennar, der die Bücher geschrieben hatte, die er so gern las, war nicht so viel älter als er selbst, hatte eine jugendliche Stimme, klare Augen und war nicht auf den Mund gefallen. Dieses Bild in seinem Kopf widersprach nun in jeder Hinsicht dem hinkenden Greis, den er vor sich hatte.
    Er gehorchte unverzüglich und saß jetzt wieder mit baumelnden Beinen da.
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