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Die Schattenflotte

Die Schattenflotte

Titel: Die Schattenflotte
Autoren: Boris Meyn
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an dem, was David ihm erzählt hatte. Erstens war er nach eigenen Angaben ziemlich betrunken gewesen, und zweitens besaß sein Adoptivsohn eine latente Aggression, die nicht von der Hand zu weisen war. Dem stand ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn gegenüber, aber der war stark durch seine eigentliche Herkunft bestimmt. Und die wurzelte in einer Sippschaft kleinkrimineller Ganoven. Ein Umfeld, aus dem er David im Jugendalter herausgeführt zu haben glaubte. Sören ärgerte sich maßlos über sich selbst, darüber, dass er David nicht wirklich vertraute.
    «Ein gewisser Simon Levi aus   …» Während Dr.   Göhle die Akten auf seinem Tisch durchblätterte, schien ihm einzufallen, dass er eigentlich noch keine Informationen preisgeben durfte.
    «Nicht aus der Stadt?», fragte Sören nach.
    «Nein. Von daher ist die Annahme, er habe sich hierals Lude verdingt, für uns auch völlig abwegig.» Göhle lächelte. «Man fand in seinen Taschen ein Transitpapier für eine Überseepassage. Levi wollte am 12.   Januar nach New York reisen. Mit der Pretoria, einem Dampfer der Hapag.»
    «Ein Auswanderer also?»
    Dr.   Göhle lächelte ihn ausdruckslos an.
    «Bekomme ich eine Abschrift der Protokolle?»
    «Wenn Sie das Mandat übernehmen, sicher», antwortete der Staatsanwalt.
    «Bis zur Anklageschrift keine Akteneinsicht?»
    «Sie kennen das Gesetz.»
    «Und der Name des Zeugen?» Sören wusste, dass es aussichtslos war.
    Wie erwartet schüttelte Dr.   Göhle mit einem freundlichen Lächeln den Kopf. Dann blickte er zur Tür, die sich vorsichtig geöffnet hatte.
    «Ja, was gibt es denn?», fragte er laut. «Sie sehen doch, dass ich in einer Besprechung   …» Der Gerichtsdiener betrat den Raum und reichte dem Staatsanwalt eine Notiz. «Der Herr Senator? Aber sicher kann ich einen Augenblick an den Apparat   …» Er wendete sich seinem Gast zu. «Sie entschuldigen mich einen Moment? Ein dringendes Telefonat.»
     
    Sören hatte keine Einwände. Ganz im Gegenteil. Er war sich bewusst, dass er Verbotenes tat, aber er nutzte die Zeit. Als die schwere Eichentür ins Schloss fiel, trat er an Göhles Schreibtisch und blätterte geschwind durch die Akte. Es waren nicht viele Seiten, und er fand schnell, was er suchte. Den vorläufigen Polizeibericht, den Namen des Zeugen und einen Hinweis auf den Ort, wohin man den Leichnam gebracht hatte. Dann fand er noch etwas, wasihn stutzig machte. Die Meldeadresse des Opfers war zwar nicht so ungewöhnlich für diese Stadt, aber wenn sie tatsächlich stimmen sollte, dann hatte Simon Levi auf der Reeperbahn wirklich nichts zu suchen gehabt.

Die Stadt in der Stadt
    Doktor Reuter vom Hafenkrankenhaus blickte nur flüchtig auf das Papier, das Sören ihm vorgelegt hatte und das ihn angeblich dazu berechtigte, den Leichnam selbst in Augenschein nehmen zu dürfen. Er war etwa in Sörens Alter, und nachdem sie einige Worte gewechselt hatten, musste er den Besucher wohl für einen Kollegen halten, was genau genommen sogar richtig war. Obwohl Sören ein abgeschlossenes Medizinstudium vorweisen konnte, hatte er nie als Arzt praktiziert. Ausdrucksweise und Fachtermini waren ihm hingegen immer noch geläufig. So etwas vergaß man nicht. Reuter begleitete ihn persönlich hinab in die Kellergewölbe, wo auch die Leichenhalle untergebracht war.
    «Von einer Öffnung haben wir Abstand genommen», erklärte der Arzt, während er zielstrebig zu einem der Rollwagen ging, die an der Kellerwand aufgereiht standen. «Verletzung und Todesursache waren eindeutig durch äußeren Augenschein feststellbar.» Er inspizierte den Zettel am Gestell des Wagens und verglich die Nummer mit seinen Unterlagen. «Da haben wir ihn, Simon Levi. Alter sechsundzwanzig.» Er zog das Tuch vom Leichnam. «Fraktur der hinteren Schädelplatte.»
    Sören beugte sich über den Toten und inspizierte die Wunde. Ein süßsaurer Geruch stieg ihm in die Nase, eine Mischung aus organischen Sekreten und Formalin. Der Duft des Todes, wie es einer seiner Professoren einmalgenannt hatte. Eine Sache hatte ihn schon immer fasziniert, und auch jetzt konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Mit der Fingerspitze drückte er die Haut des Toten am Oberarm. Es sah aus, als wenn sich Haut und Fleisch in Wachs verwandelt hätten. Die Vertiefung an der Druckstelle blieb. Sören widmete sich wieder der Wunde. Zwischen den Knochensplittern konnte er Teile der Hirnmasse erkennen.
    «Der Täter muss zweimal zugeschlagen haben», erklärte Doktor Reuter.
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