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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Autoren: Alina Bronsky
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handelte sofort, wie es meine Art war. Ich öffnete die Blechdose mit dem Haushaltsgeld und nahm ein paar Scheine heraus. Ich warf mir hastig den Mantel über und rannte auf die Straße, wo ich mich an den Straßenrand stellte und den Daumen hob. Nicht panisch herumfuchtelnd, wie das andere machten, sondern klar und würdevoll. Das wirkte immer.
    Sofort hielt ein schmutziges kleines Auto an. Ich sah schon immer viel jünger aus, als ich war, viele waren froh, einer Frau wie mir helfen zu können.
    Der Zhiguli, dessen Farbe sich unter dem Dreck nicht mehr erahnen ließ, fuhr mich in acht Minuten zu Aminats Kindergarten. Der Fahrer wollte von mir kein Geld, und ich bestand auch nicht darauf. Er war zu Recht stolz darauf, eine Frau wie mich im Auto gehabt zu haben. Ich war trotzdem zu spät. Sulfia hatte Aminat schon aus dem Kindergarten abgeholt. Sie hatte alles vorbereitet.
    Aminats Schrank im Vorraum war leer. Ihre Hausschuhe und ihr Hauskleid waren weg. Der Wurm, den sie während der Bastelstunde aus Plastilin geknetet hatte, war auch weg. Aminat sollte in diesen Kindergarten nicht mehr zurückkommen, sagte mir eine der Erzieherinnen, die einen besonders offiziellen Ausdruck im Gesicht trug. Aminats Mutter sei ans andere Ende der Stadt gezogen und habe das Kind in einem anderen Kindergarten angemeldet, den sie unter ihren neuen Bedingungen besser erreichen konnte.
    »Wohin?« rief ich.
    Sie könne mir nicht weiterhelfen, sagte die bebrillte Ziege schadenfroh.
    Ich muss sagen, ich war nicht nur entsetzt. Ich war auch überrascht. Bislang hatte ich gedacht, Sulfia besaß den Antrieb einer Nacktschnecke. Dass sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ausziehen, Aminat mitnehmen, Aminat in einem neuen Kindergarten anmelden, vorher eine neue Wohnung für zwei Personen finden konnte, und das alles, ohne mir oder ihrem Vater ein Wort zu verraten: Das passte nicht zu meiner Vorstellung von Sulfia.
    »Sag was«, verlangte ich von meinem Mann, während er abends in der Küche Kohlrouladen kaute, und er sagte: »Wir müssen aufpassen, dass sie uns das zweite Zimmer nicht wegnehmen, wo wir doch hier jetzt zwei Leute weniger sind.«
    Er hatte auch keine Ahnung, wohin unsere Tochter verschwunden sein könnte.Die erste Woche wartete ich immer auf einen Anruf von ihr oder wenigstens von der Miliz. Das Telefon stand im Flur, damit alle Bewohner unserer Wohnung es nutzen konnten. Wenn es klingelte, war ich immer als Erste am Apparat, aber Sulfia rief nicht an und auch sonst niemand.
    In der zweiten Woche begann ich mich schlecht zu fühlen. Ich träumte davon, wie Aminat, hungrig und verfroren, in ihrem Kinderbettchen saß und weinte. Wie Sulfia das nicht hören wollte, weil sie irgendwelchen dummen Sachen nachging, während Aminat litt.
    »Du musst bei Sulfia auf der Arbeit anrufen«, verlangte ich von meinem Mann, als er abends in der Küche ein Hühnerbein abnagte. »Du musst herausfinden, wo sie hingezogen sind.«
    Mein Mann sagte, unsere Tochter sei erwachsen.
    »Aber Aminat nicht!« rief ich, und er sah von seinem Teller auf.
    Und noch eine Woche später zog ich mein dunkelrotes Kleid an, ließ die Haare offen, betonte Augen und Lippen vor dem Spiegel und fuhr mit dem Trolleybus zur chirurgischen Klinik, in der Sulfia arbeitete. Ich betete, dass sie immer noch dort arbeitete. Ich stellte mich vor die Eingangstür, vor der auch einige arme, kranke Menschen in grauen Krankenhauskleidern standen und frische Luft atmeten, und begann zu warten.
    Gott belohnte mich und schickte Sulfia bereits nach zwei Stunden heraus. Sie hatte ihren alten blauen Mantel an, den sie schon in der Schule getragen hatte, und eine Netztasche in der Hand. In der Netztasche erspähte ich fünf verschrumpelte Kartoffeln. Es war schon immer unmöglich gewesen, Sulfia zum Einkaufen zu schicken, auf den Markt schon gar nicht. Sie ließ sich die schlechtesten,faulsten Sachen andrehen und merkte das nicht einmal.
    Als Sulfia mich sah, wurden ihre Augen rund und bekamen einen Stich ins Blaue. Damit hatten sie die Farbe überreifer Pflaumen. Sie wich zurück, aber ich ging zielstrebig auf sie zu und nahm sie am Ärmel ihres elenden Mantels.
    »Wo willst du hin, du Miststück?« fragte ich sie so freundlich, wie es mir in dieser Situation nur möglich war. »Wo hast du Aminat hingebracht, du Verbrecherin an der Mutterschaft?«
    Sulfia zappelte in meinem festen Griff.
    »Anja ist meine Tochter«, piepste sie.
    »Seit wann?« erhob ich meine Stimme.
    Die armen, kranken
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