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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Autoren: Alina Bronsky
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nannten, weil es außerhalb ihrer Möglichkeiten lag, sich einen tatarischen Namen zu merken, geschweige denn auszusprechen.
    Mein Mann war sehr kategorisch. Er glaubte nicht an Gott, er glaubte nur daran, dass alle Menschen gleich waren, und dass jeder, der das Gegenteil behauptete, noch im Mittelalter lebte. Mein Mann mochte es nicht, wenn wir uns von anderen unterschieden.
    Ich sagte ihm einfach, unsere dumme kleine Sulfia hätte die Grippe. Er kam an ihr Bett und legte ihr die Hand auf die Stirn. »Die ist aber kalt«, sagte er. »Kalt und feucht.«
    Ich konnte es eben nicht allen recht machen. Sulfia stöhnte und warf sich herum.

[Menü]
    Zwillinge halt
    In dieser Nacht bekam ich plötzlich Angst, dass Sulfia mir sterben würde. Ich hatte seit Jahren nicht mehr Angst um sie gehabt, und das Gefühl gefiel mir nicht. Ich lüpfte Sulfias Decke. Es sah gut aus. Ich machte sie sauber, nahm das blutige Zeug, steckte es in eine Plastiktüte und wickelte alles in eine Zeitung. Ich verließ leise unsere Wohnung, hörte dabei, wie unsere Nachbarin Klavdia sich im Bett umdrehte, trug das Bündel durch die leeren dunklen Straßen und stopfte es in einen Müllcontainer ein paar Straßenzüge weiter.
    Am Morgen bekam Sulfia Fieber. Sie blutete wie ein Schwein. Ich holte eine Dose Kaviar aus den Tiefen meines Kühlschranks, die ich für das Neujahrsfest aufbewahrte, machte vier dicke Brote und fütterte Sulfia damit. Kaviar war bekanntlich gut für die Blutbildung.
    Sulfias Zähne klapperten, sie hatte Schüttelfrost. Die durchsichtigen orangefarbenen Kaviarkügelchen klebten an ihrem Kinn. Ich schüttete Sanddorntrunk in ihren schiefen Mund. Den Sanddorn hatte ich im Herbst in meinem Garten auf dem Land gepflückt, mir dabei die Hände blutig zerstochen und die Haut an den Fingerkuppen ruiniert. Danach die Beeren mit Zucker püriert, 10 Liter in Einmachgläsern, und so hielt der Sanddorn den ganzen Winter. Ich löste ihn löffelweise im heißen Wasser auf und gab den Trunk Sulfia, damit sie Vitamine bekam.
    Sie schniefte und stöhnte, aber meine Mühen zahlten sich aus.
    Nach wenigen Tagen hörte Sulfia auf zu bluten, stand auf und ging selbstständig zur Toilette. Nach einigen weiteren Tagen ging sie wieder in ihre Schwesternschule. Klavdia gab uns eine Bescheinigung darüber, dass Sulfia die Grippe gehabt hatte. Ich konnte sie immer besser leiden, mehrere Monate lang, bis ich merkte, dass Sulfias Bauch sich zu runden begann. Irgendwann wurde es überdeutlich. Selbst ich merkte es ziemlich spät, ich hatte einfach nicht damit gerechnet. Dann fiel es sogar Kalganow auf, der sonst grundsätzlich alles übersah.
    »Was hat die Sonja da?« fragte er und deutete mit dem Finger. »Wie kommt das dahin?«
    »Sie wächst eben noch«, sagte ich eilig, legte meine Hand auf Sulfias Bauch und erstarrte. Die Tritte gegen meine Hand kündigten Schwierigkeiten an.
    Gott hatte sich über mich lustig gemacht. Gott oder Klavdia.
    »Zwillinge halt«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. Sie sagte, sie habe von uns Geld für ein Kind bekommen, und das habe sie auch sauber beseitigt. Da sie nichts von einem Zwilling wusste, konnte sie das zweite Kind auch nicht berücksichtigen. Sie hatte nur den getroffen, der dem Ausgang am nächsten war.
    Eigentlich, sagte Klavdia, war das Überleben des zweiten Zwillings der beste Beweis ihrer eigenen Kunstfertigkeit. Wo bei anderen nicht einmal das Überleben der Mutter gesichert war.
    Ich sperrte mich auf der Toilette ein und ließ die Tränen laufen, lautlos, damit man mich nicht hörte, damit die Augen nicht rot wurden. Sulfia saß auf einem Hocker in der Küche, streichelte ihren Bauch, lächelte kuhäugig und kaute Käsebrote, Wurstbrote, frische Gurken, die ich auf dem Markt gekauft hatte, saure Gurken, die ich im Sommer eingelegt hatte, Essigtomaten, Äpfel, ein Stück Apfelkuchen, eine Schüssel Landquark und einen großen Teller Grießbrei mit Rosinen.
    Da ich wusste, dass mein Mann uns die Geschichte mit der Traumzeugung nicht glauben würde, sagte ich ihm einfach, Sulfia sei vom Nachbarn zwei Stockwerke über uns vergewaltigt worden. Der Nachbar war mit dem wichtigsten Vorgesetzten meines Mannes verwandt. Danach sagte Kalganow gar nichts mehr, nicht zu mir, nicht zu Sulfia und auch nicht zum Nachbarn, und wir begannen, auf das Kind zu warten, niemals die leise Hoffnung aufgebend, dass irgendeine hilfreiche Kalamität, eine Krankheit oder ein medizinischer Pfusch, doch noch dazwischenkommen
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