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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse
Autoren: Salman Rushdie
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getäuscht haben? Wenn er noch atmen will? Nasreen Chamchawala stand neben ihm. »Komm, bringen wir deinen Vater nach Hause«, sagte sie.
     
    Changez Chamchawala fuhr in einem Rettungswagen nach Hause; er lag in einer Aluminiumschale zwischen den beiden Frauen, die ihn geliebt hatten, während Salahuddin in seinem Auto hinterherfuhr. Die Männer vom Rettungswagen bahrten ihn im Arbeitszimmer auf; Nasreen stellte die Klimaanlage auf die höchste Stufe. Schließlich war das ein tropischer Tod, und die Sonne würde bald aufgehen.
    Was hat er gesehen? dachte Salahuddin immer wieder.
    Warum das Entsetzen? Woher dieses letzte Lächeln?
    Wieder kamen die Leute. Onkel, Vettern, Freunde nahmen die Sache in die Hand, arrangierten alles. Nasreen und Kasturba saßen auf weißen Laken auf dem Fußboden des Zimmers, in dem Saladin und Zeeny vor langer Zeit einmal den Oger Changez besucht hatten; bei ihnen saßen Frauen und trauerten mit ihnen, viele leiert en, mit Hilfe von Gebetsperlen, unablässig die Qalmah herunter. Salahuddin ging das auf die Nerven, doch fehlte ihm die Kraft, ihnen Einhalt zu gebieten.
    Dann kam der Mullah und nähte Changez’ Leichentuch, und es wurde Zeit, den Leichnam zu waschen; und obwohl viele Männer da waren und seine Hilfe nicht nötig war, bestand Salahuddin darauf. Wenn er seinem Tod ins Auge blicken konnte, dann kann ich es auch. Und als sein Vater gewaschen wurde, sein Körper nach den Anordnungen des Mullah hierhin und dorthin gerollt wurde, das Fleisch mit Malen und Flecken übersät, die Blinddarmnarbe lang und braun, erinnerte Salahuddin sich an das einzige andere Mal in seinem Leben, als er seinen, was das Körperliche betraf, zimperlichen Vater nackt gesehen hatte: Er war neun Jahre alt gewesen, als er in ein Badezimmer platzte, wo Changez gerade duschte, und der Anblick des Penis’ seines Vaters war ein Schock für ihn gewesen, den er nie vergessen hatte. Jenes dicke, gedrungene Organ, wie ein Knüppel. O dessen Kraft; und die Unscheinbarkeit des eigenen… »Seine Augen wollen sich nicht schließen«, beschwerte sich der Mullah. »Das hätten Sie schon früher tun sollen.« Er war ein stämmiger, pragmatischer Bursche, dieser Mullah mit dem schnauzerlosen Bart. Er behandelte den toten Körper wie eine gewöhnliche Sache, die gewaschen werden musste , wie ein Auto, ein Fenster, ein Teller.
    »Sie sind aus London? Dem Großen London? Da war ich lange Jahre. Ich war Türsteher im Claridge’s Hotel.« Ach, wirklich?
    Wie interessant. Der Mann wollte Smalltalk machen!
    Salahuddin war entsetzt. Das hier ist mein Vater, verstehen Sie das nicht? »Diese Kleidungsstücke«, fragte der Mullah und zeigte auf Changez’ letzten Kurta-Pajama, den, den sie im Hospital aufschneiden mussten , um an seine Brust zu kommen.
    »Brauchen Sie den noch« Nein, nein. Nehmen Sie sie. Bitte.
    »Sie sind sehr freundlich.« Kleine schwarze Tuchstückchen wurden Changez in den Mund und unter die Augenlider gestopft. »Dieses Tuch war in Mekka«, sagte der Mullah.
    Nehmen Sie es heraus! »Ich verstehe nicht. Das ist heiliges Tuch.« Sie haben mich gehört: raus damit. »Möge Gott Ihrer Seele gnädig sein.«
    Und:
    Die Bahre, mit Blumen bestreut, wie ein übergroßes Kinderbettchen.
    Der Körper, in Weiß gewickelt, mit Sandelholz bestreut, des Duftes wegen.
    Mehr Blumen, darüber ein grünes Seidentuch mit Koranversen als Goldstickereien darauf.
    Der Rettungswagen, in dem die Bahre lag, der darauf wartete, dass die Witwe dem Aufbruch zustimmte.
    Das letzte Lebewohl der Frauen.
    Der Friedhof. Trauernde Männer eilen herbei, um die Bahre auf ihre Schultern zu heben, trampeln Salahuddin dabei auf den Fuß, ein Stück des Nagels seines großen Zehs reißt ab.
    Unter den Trauernden ein entfremdeter alter Freund von Changez, der trotz beidseitiger Pneumonie hier ist, und ein weiterer alter Herr, der ausgiebig weint und selbst am darauffolgenden Tag sterben wird, und alle erdenklichen Menschen, die wandelnden Protokolle eines toten Mannes Leben.
    Das Grab. Salahuddin klettert hinab, steht am Kopfende, der Totengräber am Fußende. Changez Chamchawala wird herabgesenkt. Das Gewicht des Kopfes meines Vaters liegt in meiner Hand. Ich legte ihn nieder, zur Ruhe.
    Die Welt, schrieb jemand, ist der Ort, dessen Existenz wir beweisen, indem wir darin sterben.
     
    Auf ihn wartete, als er vom Friedhof zurückkam: eine Lampe aus Kupfer und Messing, sein erneuertes Erbe. Er ging in Changez’ Arbeitszimmer und schloss die Tür.
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