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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Autoren: Mo Yan
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sein Oberkörper war nackt; seine schweren Muskeln traten hervor wie bei einer Knoblauchknolle und seine Brust war schwarz behaart. Ich betrat das Wohnzimmer. Da saß mein Schwiegervater in meditativer Ruhe auf dem mit goldenen Intarsien verzierten Lehnstuhl aus Sandelholz, den er aus der Hauptstadt mitgebracht hatte. Durch seine Hände ließ er eine Gebetskette aus Sandelholzperlen gleiten, und murmelte dabei unentwegt etwas vor sich hin, was sowohl ein Gebet als auch ein Fluch hätte sein können. Es herrschte dämmriges Licht, doch durch die Fensterläden drangen einzelne Sonnenstrahlen und zeichneten ihre Muster auf den Boden. Ein Strahl traf das Gesicht meines Schwiegervaters und ließ es gold- und silberfarben aufleuchten. Es war ein hageres Gesicht mit tiefliegenden Augenhöhlen, hoch sitzendem Nasensteg, einem verkniffenen Mund und einer auffälligen Narbe, wie von einer Schnittwunde. Zwischen seiner Nase und dem vorstehenden Kinn sproß nicht ein einziges Haar  – kein Wunder, daß man ihm nachsagte, er sehe aus wie ein entlaufener Palasteunuch. Sein Haupthaar war schon so dünn geworden, daß man eine Menge Seidenschnüre hinzunehmen mußte, um daraus einen Zopf flechten zu können.
    Er blinzelte mit den Augen, und sein eiskalter Blick traf mich. »Vater, Ihr seid schon auf?« grüßte ich ihn. Er nickte leicht mit dem Kopf und fuhr fort, die Gebetskette durch die Finger gleiten zu lassen.
    Gemäß der Gewohnheit, die ich seit einigen Monaten pflegte, nahm ich einen Hornkamm zur Hand, um meinem Schwiegervater das Haar zu kämmen und den Zopf zu flechten. Normalerweise ist das die Aufgabe eines Dienstmädchens, doch wir haben keine Dienstboten im Haus. Wenn die Schwiegertochter dem Schwiegervater das Haar kämmt, könnte man leicht auf ein unschickliches Verhältnis schließen. Doch der alte Mistkerl hatte mich dazu gezwungen, ihm die Haare zu kämmen, und ich hatte mich gefügt. Nein, eigentlich war ich selbst es gewesen, die ihn an diese perverse Zeremonie gewöhnt hatte. Eines Morgens, kurz nach seiner Ankunft bei uns, ging sein braver Sohn Xiaojia zu ihm, nahm ihm den Kamm aus der Hand und begann, ihn zu kämmen. Ich hörte, wie er sagte: »Vater, ich habe so wenig Haare. Als ich klein war, hörte ich Mutter sagen, daß die vielen kahlen Stellen vom Grind auf meinem Kopf kämen. Ihr habt auch nur wenige Haare auf dem Kopf, kommt das auch vom Grind?«
    Xiaojia ist ein solcher Einfaltspinsel! Der Alte verzog das Gesicht und es fehlte nicht viel, daß er ihn bestrafte, aber schließlich kämmte ihn sein Sohn nur aus kindlicher Verehrung. Allerdings erinnerte die Art, wie Xiaojia mit seinem Haar umging, eher daran, wie er den Schweinen die Borsten ausrupfte.
    An jenem Tag kam ich gerade in bester Laune von Exzellenz Qian zurück, und so sagte ich, um nett zu sein: »Vater, erlaubt, daß ich Euch kämme.« So kämmte ich ihm die Haare sehr sorgfältig und nahm außerdem noch Seidenschnur dazu, um ihm einen schönen, dicken Zopf zu flechten. Danach nahm ich einen Spiegel und hielt ihn ihm vor, damit er sich betrachten konnte. Er strich sich mit den Fingern über den Zopf, und plötzlich glänzten Tränen in seinen dunklen und kalten Augen. Das war allerdings außergewöhnlich. Xiaojia strich seinem Vater über die Wangen und fragte: »Vater, weint Ihr?«
    Mein Schwiegervater schüttelte den Kopf. »Die Kaiserinwitwe hatte am Hof einen eigens zum Kämmen ihrer Haare bestimmten Palasteunuchen«, sagte er, »aber sie nahm seine Dienste nie in Anspruch. Es war Li Lianying, der große Li, Hauptverwalter des Hofes, der sie kämmte.«
    Ich wurde aus seinen Worten nicht schlau. Xiaojia dagegen hörte nur, daß vom Hof in Beijing die Rede war, und wollte sofort mehr wissen. Sein Vater aber kümmerte sich nicht um ihn, zog statt dessen einen Geldschein aus dem Rock, gab ihn mir und sagte: »Schwiegertochter, geh und kauf ein paar Meter guten ausländischen Stoffes und näh dir Kleider davon; du bist mir immer sehr zu Diensten gewesen.«
    Am nächsten Morgen, als ich noch tief und fest schlief, rüttelte Xiaojia mich wach. »Was ist denn los?« fragte ich ärgerlich.
    Xiaojia sagte völlig ungerührt: »Steh auf, mein Vater wartet darauf, daß du ihm die Haare kämmst!«
    Ich war im ersten Moment so verblüfft, daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte. Wenn man einmal anfängt, für ein gutes Klima in der Familie zu sorgen, ist es schwer, wieder damit aufzuhören. Wofür hält mich dieser Mann? Widerlicher Alter,
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