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Die Samenhändlerin (German Edition)

Die Samenhändlerin (German Edition)

Titel: Die Samenhändlerin (German Edition)
Autoren: Petra Durst-Benning
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springen.
    Sterben für die Liebe …

58
    Im Nachhinein hätte Seraphine nicht mehr sagen können, ob sie gesprungen wäre. Ob ihr Mut gereicht hätte.
    Gottliebs gellender Schrei hatte sie erschreckt, ihr rechter Fuß hatte den Halt auf der Sprosse verloren, einen Moment lang hatte sich die Schlinge um ihren Hals schon zugezogen.
    Mit wehender Jacke war er angerannt gekommen, hatte die Leiter von unten gestützt, hatte geschrien, sie angeschrien.
    Noch wäre nichts zu spät! Valentin würde noch leben. Woher sie überhaupt wisse, dass Val … Wo der Bote doch gesagt hatte, er sei mit der Depesche direkt zu ihm, Gottlieb, gekommen.
    Seine Augen waren gerötet, als habe er getrunken. Oder geweint.
    Sein Rufen, immer verzweifelter. Wirre Worte, die keinen Sinn ergaben. Wovon redete er? Was wollte er hier? Wo war die Mutter? Seraphine hatte die Ohren verschlossen, o ja, das konnte sie noch. Nicht hören, was sie nicht hören wollte.
    Dann war er die Leiter hinaufgeklettert. Sie hatte den Schweiß riechen können, den sein Körper verströmte. Seinen Schweiß und den Duft der Goldparmänen.
    Widerstandslos hatte sie zugelassen, dass er die Schlinge von ihrem Hals nahm. Ihre Ohren wurden dabei schmerzhaft zusammengedrückt, die Nähe von Gottliebs massigem Körper war ihr unangenehm.
    Irgendwie hatte er es geschafft, sie von der Leiter zu holen.
    Wie leblose Puppenkörper hatten sie dagesessen. Zwischen den rotbackigen Äpfeln und den Wespen hatte er ihr von Valentin erzählt, der im Sterben lag. Wie die Wespen. Nur in einem fremden Land.
    Dann weinten sie gemeinsam.
    Gottlieb setzte alle Hebel in Bewegung, um schon für den nächsten Tag einen Wagen zu beschaffen. Er wollte auf dem schnellsten Weg nach Haarlem. Warum Valentin gegangen war, wie er es wagen konnte, die Familie im Stich zu lassen, warum es ihn auf den Tulpenhof verschlagen hatte, wo er in seinem Abschiedsbrief doch Amerika genannt hatte – alles war für den alten Samenhändler unwichtig geworden. Dass er mit seiner entzündeten Ferse kaum laufen konnte – unwichtig. Nun, da Valentins Leben am seidenen Faden hing, galt es, ihm beizustehen. Seinem Sohn.
    Und Seraphine?
    Sie betete. Beten war ihr so wenig vertraut wie Weinen. Das Zwiegespräch mit der Sternenfee war ihr leicht gefallen, ihr hatte sie alle Sorgen anvertrauen können und all ihre Bitten. Beim Beten wusste sie nicht, welchen Ton sie anschlagen sollte – zu fremd waren Gott und sie sich geworden.
    Bitte mach, dass es nicht zu spät ist , betete sie, als sich die Kutsche von Gönningen aus in Bewegung setzte.
    Zu spät wofür?, fragte sie sich im selben Moment. Und betete doch immer wieder: Bitte mach, dass es nicht zu spät ist. Steif klangen ihr die Worte im Ohr, und ungehörig. Welches Recht hatte sie, ausgerechnet sie , etwas von Gott zu erbitten?
    Dass Gottlieb sie gefunden hatte, im letzten Moment, war ein Zeichen, dessen war sie sich sicher. Dennoch argwöhnte sie. Zu oft hatte sie Zeichen gesehen, wo es gar keine gab. Hatte Dinge, Vorfälle, Bemerkungen falsch gedeutet.
    Während sie aus dem Fenster schaute, zog nicht nur die Landschaft, sondern auch ihr ganzes Leben an ihr vorbei. Wie Bäume einer Allee reihte sich Missverständnis an Missverständnis: Ihre Liebe. Ihr Schicksal. Ihre Bestimmung. Wie blind war sie gewesen!
    Diese Erkenntnis erschreckte sie so sehr, dass sie ihren Kopf an Gottliebs Brust vergrub und weinte. Weinen war ihr schon nicht mehr so fremd. Unbeholfen streichelte er ihr übers Haar.
    Sie war auf dem Weg zu Valentin. Ausgerechnet in dem Moment, als sie ihrem Leben ein Ende machen wollte, war die Eildepesche gekommen. Nicht danach.
    Das musste doch etwas bedeuten.
    Lieber Gott, bitte mach, dass es nicht zu spät ist.
    Es war nicht so, dass Seraphine in den langen Stunden, die sie auf Fuhrwerken, in Eisenbahnen und auf der Straße verbrachten, ihre Liebe zu Valentin entdeckte. O nein. Sie hatte einmal geliebt. Mit einer solchen Intensität, dass es sie fast das Leben gekostet hätte.
    Auch Valentin war ihr fremd. Wie der Gott, zu dem sie betete. Aber sie wollte ihn noch einmal sehen. Wollte ihn um Verzeihung bitten für etwas, was im Grunde nicht zu verzeihen war. Oder doch?
    Lieber Gott, bitte mach, dass es nicht zu spät ist.
    Irgendwann, nach vielen Meilen, klangen die Worte schon weniger fremd in ihren Ohren. Je näher sie Valentin kam, desto ruhiger wurde sie.
    Vielleicht hatte Gott noch eine Aufgabe für sie. Vielleicht konnte sie noch etwas gutmachen.
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