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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich
Autoren: Marc Fischer
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mit David Lynch als von ihm.

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Fünfzehn
    Die Hochzeit hatte drei Tage gedauert. Am Morgen des dritten Tages, dem Sonntag der Bundestagswahl, wollte ich mich gerade auf den Weg von Wismar zurück nach Berlin machen und hatte mich schon verabschiedet, als mir plötzlich der Bräutigam hinterherlief.
    »Ich habe eine Bitte.«
    »Ja?«
    »Kannst du Julia mitnehmen?«
    »Wen, bitte?«
    »Claras Freundin. Die, mit denen sie eigentlich fahren wollte, sind schon weg.«
    Clara, des Bräutigams Tochter, ist fünfzehn. Ich nahm an, dass diese Julia ebenfalls fünfzehn war.
    Ich wollte eigentlich keine Fünfzehnjährige im Auto haben. Nichts Persönliches, aber Fünfzehnjährige sind mir ein Gräuel. Kinder allein sind die Hölle, aber wenn sie aus dem Kinderalter rauskommen, geht’s erst richtig los. Kinder kannst du spielen schicken, wenn sie nerven, du kannst sie zum Klavierunterricht zwingen, zum Judo, zum Zimmeraufräumen oder für drei Wochen zur Oma, wenn’s wirklich gar nicht mehr anders geht. Fünfzehnjährige kannst du nirgendwohin schicken. Sie hören dir nicht zu, sie interessieren sich nicht für dich, deine bloße Anwesenheit ist schon ein Affront. Sie sind verschlossen, schlecht gelaunt, wollen, dass man ihnen Videospiele, Stereoanlagen, Handys, Turnschuhe, iPods, DVD – Kollektionen und Wochenenden in Paris schenkt. Sie nehmen, anstatt zu geben, und nur, wenn du wirklich sehr großes Glück hast, werden sie nicht kleinkriminell und finden abends ohne Gesichtstätowierung den Weg zurück nach Hause. Erinnert sich noch jemand an die Mädchenbande, die letztes Jahr durch Berlin zog und Tabakladenbesitzer verprügelte und ausraubte? Allesamt fünfzehn.
    Woher ich das weiß? War selber mal fünfzehn. Kein gutes Alter. Während das Kind noch im Zimmer sitzt, klopft von draußen die Adoleszenz an. Als Fünfzehnjähriger bist du die Tür dazwischen.
    »Äh – klar«, sagte ich. Wäre der Bräutigam kein Bräutigam gewesen, hätte ich nach einer Ausrede gesucht, aber einem Bräutigam am Hochzeitswochenende was abschlagen, nein, das geht nicht.
    Ich hatte Claras Freundin vorher schon gesehen, in der Kirche und abends, auf der Feier. Als Tochter des Bräutigams kam Clara automatisch eine tragende Rolle zu: Sie bekam eine neue Familie, war der umworbene Star, jeder war an ihrem Wohlergehen interessiert. Diese Julia war ihre Begleitung, und wie das mit Begleitungen so ist, wirkte sie etwas hilflos und fremd, wenn Clara nicht an ihrer Seite war. Die meiste Zeit schwieg sie, lächelte höchstens kurz mal schüchtern. Ich muss zugeben, dass sie mir nicht ganz unsympathisch war mit diesem Ausdruck von Verlorenheit im Gesicht, mit diesem »Ich bin zwar hier, aber verlangt bitte nicht, das durch irgendwelche Aktionen unter Beweis zu stellen«. Dazu war sie sehr hübsch, Halbjapanerin.
    Sie lehnte auf ihrem Rollkoffer und las in einem Buch, als mein Freund, der Bräutigam, mich zu ihr brachte.
    »Das ist Marc, er nimmt dich mit nach Berlin.«

    Sie reichte mir die Hand. Fünfzehnjährige drücken deine Hand nicht, sie gestatten dir nur, sie kurz mal anzufassen. Völlig egal, ob Junge oder Mädchen.
    Galant wie ich bin, nahm ich ihren Koffer und zog ihn zum Wagen. Sie trottete mir in gebührendem Abstand nach. Wenigstens redet sie nicht viel, dachte ich, dann kann ich während der Fahrt Musik hören. Die neue Franz Ferdinand oder so was. Sicher wird sie selber gleich ihren iPod rausholen und sich in die Ohren stopfen.
    »Anschnallen, bitte«, sagte ich im Befehlston. Dann fuhr ich los, mit der Fünfzehnjährigen auf dem Beifahrersitz. Der ersten Fünfzehnjährigen, die da jemals saß.
    »Und?«, fragte ich, um kurz etwas Konversation zu machen, während ich die Ausfahrt suchte. »Hat dir die Hochzeit gefallen?«
    »Mhm«, sagte sie.
    »Schöne Musik in der Kirche, nicht wahr?« Was redete ich da eigentlich?
    »Mhm. Sag mal – mussten wir da eben nicht links abbiegen statt rechts?«
    »Mach dir darüber mal keine Sorgen, ich weiß schon, wo’s langgeht.«
    So sind sie, die Fünfzehnjährigen d’aujourd’hui: können schon drei Jahre vorm Führerschein besser fahren, bloß weil sie wissen, was Google ist. Allerdings war mir die Gegend, durch die ich fuhr, etwas fremd. Fünf Minuten später drehte ich um. Ich merkte, wie ich rot wurde. Jetzt konnte man eigentlich mal Musik hören.
    »Und, was machst du so?«, fragte Julia, während ich am Radio herumfummelte.
    »Journalist«, sagte ich.

    »Fest oder frei?«
    »Frei«,
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