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Die Saat - Ray, F: Saat

Die Saat - Ray, F: Saat

Titel: Die Saat - Ray, F: Saat
Autoren: Fran Ray
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daran.
    »Camille«, unterbricht er sie, »ich kann jetzt nicht einfach aufgeben.«
    Doch, will sie sagen, gerade jetzt! Noch ist es möglich! – Zum ersten Mal in ihrem Leben wäre sie bereit, mittendrin aufzuhören und ihrem Herzen zu folgen.
    Aber er macht die Tür auf, und sie hängt sich die Reisetasche über die Schulter.
    Zu spät.
14 Donnerstag, 10. April
Genf
    Komm nur, du musst keine Angst haben, na, stell dich nicht so an! Die Stufen sind glitschig und schleimig von breiigem Schmutz. Ein süßsaurer, fauliger Gestank lastet schwer in der Luft. Die Hand zieht das Kind weiter, vorbei an einem knochigen Alten, einer vertrockneten Mumie, das Kind zucktzurück, denn ein riesiger schwarzer Kopf stößt durch die Menge. Mama! Doch die Mama lacht. Komm weiter, ich bin doch bei dir! Ein schwarzes Tier mit Hörnern und Knochen, die messerscharf herausstehen, als würden sie gleich das Fell durchschneiden, stößt auf das Kind zu. Komm, komm schon. Das Kind hört auf zu atmen. Die Luft ist scharf und ätzend, irgendetwas brennt in den Augen, tut weh. Da, vor ihnen schlagen Flammen hoch . Mama, es brennt! Es beißt in der Nase, im Rachen, das Kind klammert sich an die Hand, die es immer tiefer hinunter in den Schmutz und in die dichte, wabernde Menge von Körpern zieht. Der letzte kleine Rest des blauen Himmels ist verschwunden, verdunkelt von dichtem, stinkendem schwarzem Qualm. Ich will heim, Mama! Das Kind bleibt stehen, doch die Mutter hört das Kind nicht mehr zwischen all den Rufen und Schreien. Die Stufen werden immer schmieriger von Schmutz und Unrat. Dahinten, zwischen der Wand aus Gewändern und wogenden Körpern, sieht das Kind drohend die braune Flut vorbeiziehen. Und plötzlich gellt ein lauter Schrei, noch ein Schrei, Arme, Beine, Füße, Knie, Ellbogen, Bäuche, Brüste stampfen und drängen, das Kind krallt sich an die Hand, es gibt kein Zurück mehr, nur noch ein Vorwärts, ein Hinunter in die Fluten. Mama! Alles Rufen ist vergebens, die Mutter hat selbst schon jeden Halt verloren. Etwas Schweres stürzt auf das Kind, es schlägt mit Knien und Brust auf die Steinstufen, das Gewicht nimmt dem Kind die Luft, doch die Hand zerrt das Kind weiter, es rutscht über die glitschigen Stufen hinunter, immer weiter, hinunter ins Wasser, Mama!, noch immer krallt sich das Kind an die Hand, das einzig Vertraute hier in dieser Hölle, die Hand zieht das Kind weiter, immer tiefer hinunter in die stinkende braune Flut. Das Kind will schreien, aber da dringt nur Wasser in den Mund, in die Nase, es spuckt und ringt nach der beißenden Luft, neben ihm im Wasser, ganz nah, treibt ein Körper, er hat nur noch Reste von Fleisch an den Rippen, hat keinGesicht, da sind nur Löcher und ausgefressene Höhlen. Da verliert das Kind die Hand – und es sinkt hinunter in die trübe Tiefe …
    Océane fährt hoch, atemlos, mit hämmerndem Herzen. Es ist alles nur ein Traum. Nur der Traum! Sie tastet zum Lichtschalter. Mit der Helligkeit normalisiert sich ihr Puls. Eine Minute, mehr brauche ich nicht. Eine Minute. Dann steht sie auf, zieht das durchgeschwitzte Nachthemd über den Kopf, reißt das nasse Bettlaken und die Zudecke herunter, geht nackt ins Bad, stellt sich unter die Dusche und wäscht alles ab. Den Dreck, den Gestank – und die Erinnerung.
    Seit Kurzem träumt sie wieder jede Nacht. Und sie dachte schon, es wäre für immer vorbei.
    Sie lässt das Licht im Badezimmer eingeschaltet, sodass es durch die Glasbausteinwand auch den Wohnbereich erhellt.
    Ein Feuerwerk von Licht sprüht der Jet d’eau in die Dunkelheit, es fällt als Glimmer durch die weiten Panoramafenster auf den tiefschwarz glänzenden Lack des Steinway-Flügels. Sie entscheidet sich für Sibelius, Kuusi – die Fichte. Beim zweiten Mal gelingt es ihr klagender und leidenschaftlicher. Sie selbst wird zu der Fichte, durch deren Äste zärtlich der Wind streicht. Ganz oben in ihrem Wipfel haben sich Vögel niedergelassen und singen, Wolken ziehen vorbei, grau und schwer, Sturm kommt auf, peitscht durch die Äste, beugt den Stamm, doch ganz plötzlich legt sich der Sturm, und weiche weiße Schneeflocken fallen auf ihre Nadeln, umhüllen sie, bis zum Morgengrauen. Océane spielt den letzten Ton, lauscht dem Echo des Klangs und atmet ihn ein.
    Dann ist es still, und gedämpft durch die schallisolierten Fenster des Lofts, dringt langsam der Verkehrslärm als entferntes Brummen herein.
    Eins der Lieblingsstücke ihrer Mutter. Sie steht auf und drückt die
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