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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen
Autoren: Minelli Michele
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auf einen Liter Wasser, und auch bei der Säurespülung wusste er, wie und wie lange er das Material behandeln durfte, damit es weich und jugendlich elastisch wurde. Je nach Wickelart brachte er dicke Locken zustande oder heitere Spiralen, selbst kleinste Kräuselungen konnte er mit der Kammspitze hervorbringen. Er wusste wie. Und er wusste, dass die Damen wussten, dass er es konnte. Und weil er wirklich ein Künstler in seinem Fach war und ihn diese Frauenzimmer auch tatsächlich dauerten in ihrem einfältigen Leben, bemühte er sich redlich, deren Phantastereien umzusetzen und sie so mit wuchtigen Kamelhaarbüscheln aus fernen Steppen, gülden gefärbten Daunensträußchen der russischen Eiderente, einem hauchdünnen Webschleier aus Pfauenfedern der eigenen Zucht und einmal sogar mit einem kunstvoll gefertigten filigranen Diadem aus farblich ansprechend arrangierten und überwältigend zarten Schmetterlingen auftreten zu lassen. Die Gräfin hatte sich hierzu der Beute der etwas läppischen Freizeitbeschäftigung ihres Gatten bemächtigt; ein völlig überflüssig naturbegeisterter Mann, der in gewalkten Gamaschen über flatternder Leinenhose buntem Gefleuch hinterherjagte, es mit lächerlichen Netzen, die er jubelnd durch die Luft schwang, einfing und es dann zu Hause in seinem staubigen Kabuff, möglichst weit entfernt von ihren Gelassen, systematisierte und nach penibel überwachten Nadelungsregeln durch den Thorax auf Spannbrettchen festpinnte. Aber da dieser Verrückte ohnehin wieder einmal seine Gattin alleine zurückgelassen hatte, nur um irgendwo in entlegenen Gebirgen, Steppen oder Sümpfen neuen Mosaikmustern nachzuhechten, hatte sie sich ihren Teil geholt und die seltensten Imagines für sich und ihre eigene Vergänglichkeit beansprucht.
    František war für noch so extraordinäre Wünsche zu begeistern, ihn konnte in dieser Hinsicht nichts mehr aus der Fassung bringen, und so überlegte er zufrieden und etwas selbstgefällig, womit er die Gräfin Csöke wohl morgen überraschen könnte. Als er sich umdrehte und die Flügeltür zum Vorzimmer der Gräfin Csöke verschloss und den langen gewundenen Flur entlanggehen wollte, der ihn über drei Treppen und Fluchten und durch unzählige weitere Flügeltüren zum Westteil des Anwesens führen sollte, ließ ihn plötzlich und unerwartet die Stimme von Alžbetas Kammerzofe aufschrecken, wie sie zu jemand anderem sagte: »… und das ist ganz gewiss, er hat sich in die junge Csöke vergafft und sie sich in ihn, da gibt es keinen Zweifel.«

die Giraffe
    Livorno, 1855–56
    Costanza Modigliani war eine große, schlanke junge Dame mit Beinen, die eins zwanzig maßen. Ihre Kleider wurden maßangefertigt und ihre Hüte zumeist flach gehalten. Im Jahr 1855, als sie ihren sechzehnten Geburtstag feiern sollte, empfahl sich mit einem Schlag das Lächeln aus ihrem Gesicht. Wo einst ein glückliches, leicht übermütiges und ebenso leicht überhitztes junges Mädchen voller Lebenslust war, nahm nun ein Schatten Position ein, der wie ein nasses Tuch an einem hohen Stock schlaff herunterbaumelte. Nie zuvor war ihre giraffenartige Körpergröße so störend empfunden worden wie in der Sekunde des väterlichen Basta, als sich jegliche Freude, jegliche Leichtigkeit und auch jeglicher Lebenswille von ihr verabschiedeten. Costanza Modigliani war von der einen zur anderen Sekunde zur alten Frau geworden, noch bevor ihr Körper überhaupt richtig erblüht war.
    »Ein Zwerg? Ihr wollt mich an einen Zwerg verschachern?«
    Sie raffte ihre gepolsterten Röcke und Unterröcke aus Pferdehaar und gesteiftem Rohr, die herrlichen Volants, die applizierten Schleifen und Rosetten, um ihre imposanten weißbestrumpften Beine zu befreien und stampfte laut auf. »Nein! Das könnt ihr mit mir nicht machen!«
    »Es ist das Beste für dich. Und das Beste für uns, Costanza.«
    Aber die Giraffe Costanza versuchte es noch einmal und stieß den Fuß so kräftig auf den Boden, dass all die aufgebauschtenStoffe, die Röcke und Unterröcke, an ihren langen Beinen herunterraschelten und dabei ein Geräusch machten wie das Ligurische Meer, das bei Sturm an seine Ufer schlägt.
    »Find dich damit ab, Costanza. Und damit basta.«
    Die Modiglianis wohnten schon geraume Zeit in Livorno und Umgebung, man hatte sich hier mit anderen sephardischen Juden aus Portugal und Spanien niedergelassen und lebte nach einer recht liberalen Auslegung des Glaubens. Dennoch war wichtig, dass bewahrt blieb, was bewahrt bleiben
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